- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
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»Wir leben in gefährlichen Zeiten«, sprach Solomon zu den Bewohnern von Daggorhorn, die er nun vollends in seinen Bann geschlagen hatte. Claude lag bäuchlings oben auf den Dachsparren, von wo er einen guten Blick auf das Geschehen hatte. Valerie, die eingezwängt zwischen anderen stand und kaum etwas sehen konnte, lächelte kurz zu ihm hinauf. Sie ärgerte sich, dass sie nicht selbst daran gedacht hatte, dort hinaufzuklettern.
»Natürlich wisst ihr, was der Blutmond zu bedeuten hat.«
Wussten sie es? Alle sahen sich nach einem Älteren um, der die Frage für sie beantworten konnte.
»Ich merke schon, ihr habt keine Ahnung, was er zu bedeuten hat«, fuhr er mit verkniffenem Mund fort.
Die Dorfbewohner spürten, wie ihnen die Schamesröte in die Wangen stieg.
»Das Orrery«, befahl Solomon und streckte die Hand aus. Mehr brauchte er nicht zu tun.
Der Hauptmann stellte ein Messinginstrument, das mit runden Glaskugeln versehen war, auf den Tisch.
»Die Perser haben es erfunden, aber dieses Exemplar habe ich selbst gefertigt, bis zum kleinsten Zahnrad«, erklärte er,
drehte mit dem Finger sanft an einer der Kugeln und korrigierte die Position einer anderen. Er entzündete eine Kerze, die das Modell in rotes Licht tauchte. »Seht ihr, der rote Planet nähert sich einmal alle dreizehn Jahre dem Mond an. Nur in dieser Zeit kann ein neuer Werwolf erschaffen werden.« Ein leichter Schlag aus dem Handgelenk, und die Kugel zerplatzte. Alle blinzelten bei dem Geräusch.
Solomon zeigte sein verkniffenes Grinsen. »In der Woche des Blutmonds kann der Werwolf seinen Fluch mit einem einzigen Biss weitergeben. Selbst am hellichten Tag …«
»Verzeihen Sie, aber da befinden Sie sich im Irrtum.« Der Vogt blickte erfreut. »Im Sonnenlicht wird ein Werwolf zum Menschen …«
»Nein, der Irrtum liegt bei Ihnen«, entgegnete Solomon und blickte in die Gesichter der Männer, die in den Höhlen ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten. Pater Augustes Augen strahlten.
Der Vogt verlagerte sein Gewicht.
»Ein Werwolf ist nie ein richtiger Mensch, ganz gleich wie er aussieht. Bei normalem Vollmond wird euch ein Wolfsbiss töten. Doch in den Tagen des Blutmonds geraten eure Seelen in Gefahr.«
Eine eisige Kälte legte sich über die Gaststube.
»Wie viele Tage sind es genau?«
»Vier.«
Bleiben noch zwei Nächte, dachte Valerie. Morgen ist der letzte Tag.
»Wie ich bereits sagte«, warf der Vogt selbstsicher ein und lächelte, sodass seine Hängebacken nach beiden Seiten strebten, »das alles ist jetzt nicht mehr wichtig. Wir sind
außer Gefahr. Der Wolf ist tot. Ich habe ihn in seinem Versteck getötet, in der Höhle von Mount Grimmoor.« In der Hoffnung, dass die Sache damit erledigt sei, wandte er sich ab.
Solomon sah ihn an, als wäre er ein Kind. Die Dorfbewohner waren sich unschlüssig, welcher Herr ihre Ergebenheit verdiente.
»Die Bestie hat euch hinters Licht geführt.« Solomon ließ seine Fingerknöchel knacken, einen nach dem anderen. »Von Anfang an. Höchstwahrscheinlich hat sie einen hungrigen Wolf in die Höhle gelockt und dort eingesperrt, damit ihr ihn findet. Sie hat euch weisgemacht, sie hätte ihr Versteck im Mount Grimmoor, damit ihr nicht auf die Idee kommt, am nächstliegenden Ort zu suchen.«
Er hielt inne, damit sie nachvollziehen konnten, wie töricht sie gewesen waren. »Der Werwolf ist jemand aus diesem Dorf.« Er sah die Bewohner an. »Er lebt unter euch. Er ist einer von euch.«
An einem Ende der Menge beginnend, sah er der Reihe nach jedem Dorfbewohner in die Augen. Auch der maskierte Schütze an seiner Seite ließ, die Armbrust auf dem Rücken, den Blick über die Versammelten wandern.
»Der wahre Mörder könnte euer Nachbar sein. Euer bester Freund. Sogar eure Frau.« Seine Augen funkelten wie geschliffene Edelsteine.
Valerie sah, dass die Gedanken der Männer in die Höhle zurückkehrten. Wer hatte gefehlt? Es war unmöglich zu sagen, bei dem Durcheinander in den dunklen Gängen. Sie begegnete den Blicken Madame Lazars, Peters, ihrer Eltern. In Gedanken ging sie noch einmal durch, was ihre Freundinnen über die Ereignisse beim Zelten berichtet hatten.
Wie war es möglich, dass sie Lucie aus den Augen verloren hatten? Hatte eine von ihnen Lucie aufgehalten und in die Dunkelheit gezerrt … oder ihr einen Brief geschrieben, um sie fortzulocken?
Ihr argwöhnischer Blick ruhte auf Menschen, die sie schon ihr Leben lang kannte. Dann bemerkte sie, dass die anderen sie auf die
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