- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
gleiche Weise anstarrten.
»Verbarrikadiert das Dorf«, befahl Solomon. »Postiert Wachen an jedem Tor in der Mauer. Niemand darf hinaus, bis wir den Wolf zur Strecke gebracht haben.«
Der Vogt fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. »Der Wolf ist tot«, knurrte er. »Heute Nacht wird gefeiert.«
Solomon starrte ihn an und seine Augen loderten wie Feuer. »Nur zu, feiert«, sagte er und warf die Hände in die Luft, wie es nur ein Mann tat, der es gewohnt war, dass man auf ihn hörte. »Wir werden ja sehen, wer recht hat.«
Damit drehte er sich um und verließ mit großen Schritten die Schenke.
Vater Solomon war es gewohnt, schnell zu gehen, und Valerie musste rennen, um ihn einzuholen. Doch plötzlich blieb er stehen, sein Rücken straffte sich und seine Hand fuhr zum Schwert. Kein Mann , dem man sich abrupt nähern darf.
Er drehte sich um und der drohende Ausdruck wich aus seinen Augen.
»Verzeihung«, sagte sie.
»Aber nicht doch. Was gibt es, mein Kind?«
»Ich muss wissen … meine Schwester …«
»Ja?«
»Warum? Warum hat der Wolf bis jetzt gewartet, ehe er angegriffen hat? Und warum ausgerechnet sie?«
»Das weiß allein der Teufel.«
Er sah ihr an, dass sie sich damit nicht zufriedengab, dass sie kein einfältiges Dorfmädchen war, das sich mit frommen Gemeinplätzen abspeisen ließ.
»Geh und sprich mit meinem Schreiber. Er kann dir Dinge zeigen, die dir helfen, das Unfassbare zu verstehen.«
Damit ging er weiter.
»Das Unfassbare, ja …« vernahm sie eine Stimme. »Aber verstehen? Wohl eher nicht.«
Sie drehte sich um, und der Schreiber, der Solomon gefolgt war, blieb vor ihr stehen und streckte ihr ein ledergebundenes Buch hin. Er hatte ein freundliches Gesicht und seine unteren Schneidezähne ragten über die oberen drüber. Valerie betrachtete die Buchschließe etwas genauer. Sie sah aus, als sei sie aus Pferdehufen gefertigt, und möglicherweise war sie das auch. Sie fragte nicht danach.
Es klickte, als sie das Buch aufschlug. Bei den Bildern handelte es sich um schöne Bleistiftzeichnungen der Bestien, die Vater Solomon und seiner Männer zur Strecke gebracht hatten.
Der Schreiber setzte sich eine Brille auf die Nase. Eine saubere, gleichmäßige Handschrift füllte die Seiten.
»Das ist der Obour. Er ernährt sich von Blut und Milch. Reißt Kühen in der Nacht die Euter ab.« Der Schreiber sprach mit schleppender, belegter Stimme. »So einem möchte man lieber nicht in seiner Speisekammer begegnen.«
Sie blätterte weiter, bewunderte die eleganten, sorgfältig gezogenen Linien, bemerkte, dass die Seiten vom vielmaligen
Umblättern und Durchsehen mit Graphit verschmiert waren. Sie strich mit den Fingern vorsichtig über die wundersamen Abbildungen.
»Schön, nicht?«
»Ja.«
»Die verfolgen einen bis in den Traum.«
Die Pergamentseiten waren mit roten und blauen Bildunterschriften versehen, eingefasst in goldene Blumenranken, und zeigten seltsame Wesen mit Krähenköpfen, Meeresungeheuer mit Echsenleibern und Menschengesichtern, die auf großen Buchstaben hockten und roten Rauch spieen. Sie konnte nicht glauben, dass es sie wirklich gab.
Doch ihr blieb fast das Herz stehen, als ihr Blick auf die Zeichnung eines ungeschlachten, zweibeinigen Werwolfs fiel. Sie musste an ihre geliebte Lucie denken und klappte das Buch zu. Sie konnte den Anblick nicht ertragen.
Kapitel 15
W as von meiner Schwester geblieben ist, wird bald nicht mehr sein, dachte Valerie, als sie den abschüssigen Pfad zum Fluss hinunterging. Es war jetzt später Nachmittag, und sie trugen ein schmales Floß, auf dem Lucies Leichnam lag, Cesaire am einen Ende, Suzette und sie am anderen. Sie erreichten das Ufer, wo der Boden unter dem Schnee so weich war, dass sie das Gefühl hatten, auf Asche zu laufen. Hier und dort waren schwache Abdrücke von Füßen und Pfoten im Schnee zu sehen.
Die Familie Lazar – oder was noch von ihr übrig war – hatte sich bereits eingefunden und hielt Totenwache an dem Floß, auf dem Adrien aufgebahrt war. Madame Lazar stand steif und aufrecht da, als wollte sie sich nicht beugen lassen. Henry stand hinter ihr.
Die beiden nickten Valerie und ihrer Familie zu, als sie näher kamen. Henry hob die Augenbrauen und entschuldigte sich bei Valerie stumm für sein Verhalten in der Schmiede. Sie setzten Lucies Floß neben dem Adriens ab. Valerie blickte unwillkürlich zu ihrer Mutter, doch Suzette war in ihrer doppelten Trauer versunken.
Cesaire kauerte sich nieder und begann, die
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