- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
anhielt.
»Meine Frau hieß Penelope. Sie hat mir zwei schöne Töchter geschenkt, wie Sie gesehen haben. Wir waren eine glückliche Familie und lebten in einem Dorf wie diesem. Und wie Daggorhorn wurde auch unseres von einem Werwolf heimgesucht.«
Mit schweren Stiefeltritten trat er vor seine Zuhörer hin.
»Es war vor sechs Herbsten. Die Nacht war still, wie tot. Der Vollmond prangte am Himmel und tauchte alles in sein Licht. Meine Freunde und ich verließen die Schenke spät in der Nacht nach einer … Festlichkeit.«
Valerie sah, dass er bei der Erinnerung schmunzeln musste, ein Schmunzeln, das auf andere, nicht erzählte Geschichten hinwies.
»Wir beschlossen, Jagd auf den Wolf zu machen. Dass wir ihn tatsächlich finden könnten, wäre uns nie in den Sinn gekommen. Doch wir fanden ihn. Und es sollte sich als verhängnisvoll erweisen«, sagte er mit schonungsloser Offenheit. »Irgendwann stand ich der Bestie Auge in Auge gegenüber. Sie atmete – ich konnte es spüren. Sie blinzelte – ich
konnte es hören. Energie strömte durch mich hindurch. Und ließ mich erzittern.«
Valerie war von der Geschichte genauso gefesselt wie alle anderen. Sogar ihre Mutter lauschte neben ihr gespannt.
»Aber der Wolf verschonte mich und fiel stattdessen über meinen Freund her, und ich musste zusehen, wie er ihn zerriss. Blitzschnell. Trotzdem konnte ich hören, wie sein Rückgrat brach.«
Valerie wurde übel. Sie musste an Lucie denken und fragte sich, was sie wohl gehört hätte, wenn sie dabei gewesen wäre.
»Ich schrie wie eine Frau und dann war er über mir. Ich sah nur gelbe Zähne. Ich hieb mit der Axt nach ihm und im nächsten Augenblick war er fort. Ich hatte ihm eine Vorderpfote abgetrennt. Im Glauben, sie wäre ein treffliches Andenken, nahm ich sie mit nach Hause.« Er sprach jetzt in einem vertraulichen Ton, als hätte er noch nie jemandem davon erzählt.
»Betrunken und torkelnd kam ich nach Hause. Ich war bester Dinge und stolz. Als ich in die Diele trat, bemerkte ich auf dem Boden Blutstropfen. Sie führten wie eine Spur zu unserem Küchentisch, auf dem etwas Schwarzes lag. Dunkle Flüssigkeit troff vom Tisch und bildete eine Lache auf den Dielen.« Das Sprechen strengte Solomon an, seine Augen glühten. »Als ich näher kam, sah ich mit Entsetzen, dass es meine Frau war. Ein blutiger Lappen war um ihr linkes Handgelenk gewickelt. Ihre Hand war abgetrennt. Und als ich meinen Beutel öffnete, lag das darin.« Er machte eine Pause, um die Spannung zu steigern.
Der Hauptmann zog einen Kasten hinter seinem Rücken hervor. Er hatte auf diesen Augenblick gewartet. Er schritt
auf den Vogt zu, trat ganz nahe an ihn heran, unnötig nahe, und öffnete den Kasten, die Spannung auf den Höhepunkt treibend, mit einer langsamen Bewegung. Die anderen Dorfbewohner drängten näher, um besser zu sehen.
In dem mit Samt ausgeschlagenen Kasten lag, auf Blüten gebettet, eine mumifizierte Frauenhand, an der ein funkelnder Ehering steckte. Kinder schrien entsetzt auf und liefen weg, um gleich darauf wiederzukommen und noch einen Blick zu wagen.
»Rosen«, erklärte Solomon, »waren Penelopes Lieblingsblumen. «
Die Dorfbewohner reckten neugierig die Hälse, manche rückten sogar noch einen Schritt näher.
»Meinen Töchtern habe ich gesagt, der Werwolf hätte ihre Mutter getötet«, fuhr er mit gespenstisch leiser Stimme fort, »aber das war eine Lüge. Ich habe sie getötet.« Solomons Worte hingen in der Luft. »Denn sie war der Wolf. Weiß jemand von euch, was es heißt, den Menschen zu töten, den man am meisten liebt?«
Er blickte in ein Meer leerer Gesichter.
»Vielleicht werdet ihr es bald erfahren. Wenn ein Werwolf stirbt, nimmt er wieder seine menschliche Gestalt an.«
Er blickte zu dem Wolfskopf, dem einiges von seinem Glanz abhandengekommen war, seit er mit seiner Geschichte begonnen hatte.
»Das da ist ein ganz gewöhnlicher grauer Wolf. Euer Werwolf ist noch am Leben.« Er bekreuzigte sich. Der erste Akt war vorüber. »Kommt mit. In die Schenke.«
Als alle, die Platz fanden, hineinmarschiert waren, hielt Solomon ein silbernes edelsteinbesetztes Schwert in die Höhe, in dessen Parierstange ein Bildnis Christi eingraviert war.
Bei seinem Anblick begannen Pater Augustes Augen zu leuchten. »Das …« Er versuchte, ruhig zu bleiben. »Das ist eines der drei silbernen Schwerter, die der Heilige Stuhl gesegnet hat. Darf ich es anfassen …?«
Solomon sah ihn tadelnd an.
Pater Auguste trat ernüchtert
Weitere Kostenlose Bücher