- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
wollte sie nicht auf die gleiche Weise leiden. Liebe, Begehren – es war alles so schrecklich. Sie wollte Peter vergessen, sie wollte Henry vergessen. Sie wollte ein abgeschiedenes Leben führen, ein Leben draußen im Wald wie ihre Großmutter, allein, ganz auf sich gestellt. Schluss mit »Liebe«.
Ein geknechteter Dorfesel trappelte niedergeschlagen von dannen, wahrscheinlich weil er lieber ein Pferd gewesen wäre. Kinder hatten kleine Gegenstände wie Eicheln und Maisblattpuppen in die Furchen gelegt, welche die
Kutschenräder in den Schnee gezogen hatten. Als sie aufschauten und die Armee erblickten, die aufmarschiert war, stoben sie auseinander.
Ein paar ungeschlachte Männer entluden die Kutsche, schnallten Holztruhen ab und stapelten sie am Straßenrand. Die übrigen Soldaten standen regungslos da und warteten auf Befehle. Selbst der Affe, der mit scharfem Auge auf der Schulter eines Pikeniers hockte, schien auf ein Kommando zu warten.
»Darf ich vorstellen, seine Eminenz …«, verkündete ein Soldat. Er war ein prachtvoll aussehender Mohr, wie Valerie noch keinen zu Gesicht bekommen hatte. Sein Haar war so kurz geschnitten, dass es auf den Schädel hätte gemalt sein können, und es war grau statt schwarz. Auf seinem Rücken baumelte ein Zweihandschwert. Seine Hände waren riesig und sahen so aus, als könnten sie mühelos einen Menschen erdrosseln. Eine ruhte beim Gehen auf dem Knauf einer schwarzen Peitsche, die aufgerollt an seinem Gürtel hing. Er war der Hauptmann.
»… Vater Solomon«, schloss ein anderer Soldat, der leicht der Bruder des Mohren hätte sein können. Die Stimmen der beiden Männer waren wie Samt auf der Haut.
Das Dorf staunte über Vater Solomons imponierendes Aufgebot. Es wäre eines Königs würdig gewesen. Frauen strichen sich die schmutzigen Röcke und die störrischen Haare glatt.
Mit angehaltenem Atem warteten die Schaulustigen darauf, dass der Kutschenschlag aufging. Als er es endlich tat, erblickten sie zu ihrem Erstaunen auf den Sitzen, die in Fahrtrichtung ausgerichtet waren, zwei kleine Mädchen. Die Dorfbewohner waren über ihren Anblick so verblüfft,
dass sie fast vergaßen, wem eigentlich ihre Neugier galt. Noch nie hatten sie zwei kleine Mädchen gesehen, denen der Kummer so deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
Solomon beugte sich, der Menge den Rücken zukehrend, über die Mädchen. »Bitte weint nicht. Seht ihr all die Kinder? Seht ihr, wie ängstlich sie sind?« Er deutete hinaus auf den Platz. Eines der Mädchen schlang seine kleinen Finger um einen Fensterstab und spähte heraus.
»Sie haben Angst, weil es hier einen bösen Wolf gibt. Jemand muss ihm Einhalt gebieten.«
Valerie gefiel die Art, wie er sprach, wie er Silbe für Silbe betonte, als wäre jede einzelne von Gewicht.
»Ist es die Bestie, die unsere Mutter getötet hat?«, fragte das ältere Mädchen im Tonfall einer erwachsenen Frau. Die Mädchen wirkten erschöpft von der Reise. Ihre Haare waren zerzaust und ihre Kleider zerknittert. Solomon hingegen sah weder unordentlich noch abgespannt aus. Als er sich endlich umdrehte, gewahrte die Menge, dass er einen makellos glänzenden silbernen Harnisch trug, passend zu seinem silbergrauen Haar. Es sah genauso aus, wie ein Wolfstöter aussehen sollte.
»Das wäre sehr gut möglich«, antwortete Solomon ernst, und ein Schatten huschte über sein Gesicht.
Die Mädchen erschauderten, und er beugte sich steif zu ihnen hinab, nahm sie in die Arme und küsste jedes auf den Kopf. Seine Züge wurden sanfter, während er dem jüngeren mit dem Handrücken übers Haar strich. »Er wird Zeit.« Er nickte dem Hauptmann zu.
Eine schattenhafte Gestalt lehnte sich nach vorn und zog die schluchzenden Mädchen in das dunkle Innere der Kutsche zurück. Ihr Kindermädchen.
»Seid jetzt brav«, sagte er und schloss den Schlag mit väterlicher Bestimmtheit. Da drin konnte ihnen nichts geschehen. Valerie stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass sie Solomons kleine Töchter fast beneidete, weil sie hinter ihren Gitterstäben in Sicherheit waren.
Vater Solomon sah ihnen nach, als die Kutsche vom Platz und dann zum Dorf hinausrollte, um die Mädchen an einen sicheren Ort zu bringen. Auch die Dorfbewohner beneideten sie und wünschten, sie könnten sich den Kopf tätscheln und von hier wegbringen lassen. Vater Solomon brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln, dann wandte er sich der Menge zu, die zu spüren begann, dass sie einen bedeutenden Mann vor sich hatte.
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