- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
beiden Fackeln
vorzubereiten. Während er mit Feuerstein und Zunder Funken schlug, blickte er prüfend auf den Fluss.
Valerie konnte die tiefe Traurigkeit ihres Vaters nicht ertragen.
Sie zog sich bis an den Wald zurück. Der Sturm von letzter Nacht hatte einen großen Baum umgeworfen, dessen Wurzeln jetzt in die Luft griffen und nach der verlorenen Erde suchten.
Cesaire hob den Kopf. Die Fackeln brannten.
Henry stieg die holprige Böschung zu ihm hinab und nahm eine der Fackeln in Empfang. Bevor er zu lange nachdenken konnte, warf er sie auf Adriens Floß und stieß den schwimmenden Sarg hinaus auf den Fluss, der sich kräuselte wie rauchfarbene Seide. Das Auf und Ab der Wellen war so gleichmäßig, dass er die ganze Zeit gleich aussah. Es schien, als ob sich das Wasser gar nicht bewegte. Es würde die Flammen löschen, aber erst, wenn das Feuer sein Werk getan hatte.
Henry stellte sich neben seine Großmutter, als die Flammen von dem Floß Besitz ergriffen, und rollte mit dem Fuß einen Kieselstein vor und zurück. Madame Lazars Lider senkten sich wie Vorhänge, und Valerie konnte sehen, dass ihre Augen von Tränen überzufließen drohten. In diesem Augenblick war sie nur eine Mutter, die ihren Sohn geliebt hatte. Valerie war, als tue sie einen flüchtigen Blick in das Herz der alten Frau.
Valerie konnte sich Madame Lazar nicht als junges Mädchen vorstellen, als jemanden, der anderen vertraute. Es war schwer zu glauben, dass sie menschliche Bedürfnisse wie Schlafen und Essen hatte. Und doch war Madame Lazar nicht durch und durch schlecht. Valerie hatte Nachforschungen
angestellt und herausgefunden, dass die Frau heimlich Schüsseln mit Milch für streunende Hunde hinausstellte.
Durch den Schleier ihres Schmerzes hörten die fünf Trauernden Füße durch den Kies stapfen. Es war Claude, der gekommen war, um von Lucie Abschied zu nehmen. Mit einem Blick auf Valerie stieg er die Böschung hinunter. Er versuchte, so gut es ging mit dem Geschehenen zurechtzukommen. Claude glaubte an Vieles, doch bis gestern hatte er nicht an das Böse geglaubt. Erst musste er Lucie tot im Weizenfeld liegen sehen.
Das Böse war überall.
Madame Lazar rümpfte die Nase und wandte sich von dem Störenfried ab, doch Valerie schenkte Claude ein verhaltenes Lächeln. Sie hatte nichts dagegen, dass er mit der Familie trauerte.
Cesaire trat vor, als er sah, dass Adriens Floss nun weit draußen auf dem Fluss trieb. Valerie schüttelte den Kopf. Noch einen Augenblick.
Sie betrachtete ihre Schwester ein letztes Mal – ihre Haut, diese kleinen Füße, die nicht bereit schienen, für immer zu entschwinden. Sie sah hin und versuchte, Abschied zu nehmen.
Doch Abschiednehmen war nicht leicht.
Von Tränen geschüttelt, trat Suzette an das Floß. Mütter sollten ihre Kinder nicht überleben, dachte Valerie. In der Natur sollte es ein Gesetz dagegen geben.
Cesaire holte mit einem Blick die Erlaubnis ein, dann hielt er die Fackel an das Floß. Sobald es Feuer gefangen hatte, übergab er es dem Fluss.
Suzette stand hinter ihm, gerade so weit entfernt, dass klar
war, dass sie nicht getrennt, aber auch nicht zusammen trauerten.
Valerie spürte eine Berührung und ließ sich, ihrem Gefühl folgend, an Henrys Brust sinken. Ein ruhiger Platz. Sie spürte, wie sich ein Arm um sie legte, und dann merkte sie, dass sie weinte und seinen Lederkragen mit Tränen benetzte. Als sie wieder aufschaute, war Madame Lazar verschwunden.
Sie löste sich aus Henrys warmer Umarmung, als die Flammen den Fluss berührten. Zu ihrer Mutter wollte sie jetzt nicht, und da sie auch nicht das Gefühl hatte, dass sie zu ihrem Vater sollte, ging sie am Fluss entlang. Ihre Schwester war jetzt kühles, klares Wasser. Sie fand eine Stelle, wo die Wellen sanft ans Ufer plätscherten und Kräuter aus dem Schnee lugten. Wie war es möglich, dass Pflanzen noch wuchsen? Sie setzte sich hin und ließ sich von der Strömung, deren eisige Kälte ihr den Atem nahm, die Füße umspülen, bis der Wind Claudes Stimme an ihr Ohr trug. Er rief nach ihr.
Sie drehte sich um und sah, wie ihre Mutter den beiden Flößen nachschaute und sich zu fragen schien, warum nicht auch sie geholt worden war.
Lucie war tot – daran bestand jetzt kein Zweifel mehr.
Auf dem Heimweg gingen Valerie und ihre Eltern an der dunklen Baumreihe entlang, die sich an der Dorfmauer hinzog. Sie betraten den verstärkten Schutzwall unter den strengen Blicken von Solomons Soldaten, die zu Pferde patrouillierten.
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