Rede, dass ich dich sehe
gründlich gelesen hätte, hätte bemerken können, daß hier jemand eine Gewissensnot aussprechen muß, die sich stärker auf gewöhnliche Verhaltensweisen bezieht als auf ein spektakuläres Ereignis: auf das, was im Tausendjährigen Reich viele von uns gläubig gedacht, gefühlt, getan oder unterlassen haben, für das er aber, überempfindlich, könnte mancher sagen, die üblichen Entschuldigungen, zum Beispiel, daß er ein Kind war und dadurch verführbar, nicht gelten läßt. Das auszusprechen, darüber das Schweigen zu brechen, war ihm notwendig und in der Ich-Form jetzt erst möglich.
In dieses Gewebe von Erzählen und Enthüllen und Zweifeln und Nachdenken und Über-sich-selbst-Reden hinein, in diesen Erinnerungsstrom konnte auch jene Episode endlich eingefügt und mitgenommen werden, die natürlich Betroffenheit auslösen mußte, die dann aber als einzige aus dem ganzen Buch hergenommen wurde und sich als Anlaß für einen Skandal eignete. Verurteilen statt des Versuchs, zu verstehen und sich auseinanderzusetzen, nachzufragen und – aber das ist wohl zuviel verlangt – sich selbst zu prüfen. Wieder ist eine Gelegenheit zum kollektiven Nachdenken verpaßt.
Die Beklemmung, die dieses Buch in mir ausgelöst hat, ist anderer Art. Grass schildert, nach seiner Ausbildung als Panzerschütze der Waffen- SS -Division »Jörg von Frundsberg«, seinen ersten und einzigen Kriegseinsatz, und wie er es lernt, sich zu fürchten. Wie die Apokalypse über ihn hereinbricht, wie er keinen einzigen Schuß abgibt und dreimal beinahe zu Tode kommt. Der Krieg in seiner mörderischsten Form. Dreißig, vierzig Seiten, die ich beim zweiten Lesen am liebsten überschlagen hätte. Die auch Grass, und mit ihm Tausende Kriegsheimkehrer, in sich zunächst »überschlagen«, nämlich verdrängt und beschwiegen haben, so wie andere Deutsche, auch Tausende, die
Täter nämlich, die Untaten beschwiegen haben, an denen sie beteiligt waren.
Ein Bild tauchte vor mir auf und läßt sich nicht abschütteln: Auf einer breiten Schicht von Knochen, den vermodernden Knochen der Opfer, wird Nachkriegsdeutschland aufgebaut: Heil und sauber und zuversichtlich. Und lange Zeit schweigend. Auch das kann man aus diesem Buch, besonders aus der sehr anschaulichen Schilderung der Nachkriegszeit, lernen: Wie lange man brauchte, bestimmte ungeheuerliche Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, und dann noch einmal lange, über manche eigenen Erlebnisse zu reden. Und die meisten, das wissen wir, reden nie.
Daß eben dieses Unaussprechliche doch zur Sprache kam, war eine der schwierigsten Aufgaben, denen die Schriftsteller sich mit ihren eigenen Geschichten zu stellen hatten. Günter Grass hat in der vordersten Linie daran mitgearbeitet. In diesem Buch erzählt er auch, wie er seine literarischen Figuren, vor allen anderen und immer wieder Oskar, den Trommler, aus seiner Lebenswirklichkeit heraus genommen hat, die er, wie jeder Autor, ausbeuten muß.
Bis auf den Grund? Nicht ganz. Ein Rest blieb, es war noch nicht alles gesagt.
»Es verging Zeit«, schreibt er, »bis ich in Schüben begriff und mir zögerlich eingestand, daß ich unwissend oder, genauer, nicht wissen wollend Anteil an einem Verbrechen hatte, das mit den Jahren nicht kleiner wurde, das nicht verjähren will, an dem ich immer noch kranke.« Dieses Zögern und das Eingestehen und das Begreifen beschreibt Günter Grass in diesem Buch. Ich wünsche mir, daß Leser bereit sind, ihm in diesen Selbstfindungsprozeß hinein zu folgen.
2007
Der Tod als Gegenüber
Zu Überlebnis von Ulla Berkéwicz
Dieser Text – so will ich ihn vorläufig nennen – hat keine Gattungsbezeichnung. Vergebens wird man versuchen, ihn in eines der geläufigen literarischen Genres einzuordnen, welche die abendländische Kultur über lange Zeiträume hin entwickelt hat, um mit Sprache außersprachliche Realität zu erfassen und dabei eine neue Realität herzustellen – übrigens ein erstaunlicher Vorgang, an den wir uns vielleicht zu sehr gewöhnt haben. Eine sehr zählebige Gewohnheit: Trotz verschiedenster vielfältiger Ausbrüche der Moderne aus dem herkömmlichen Kanon der Schreibweisen verlangt es die Masse der Leser und Zuschauer nach Geschichten mit Anfang, Mitte, Ende – eine Struktur, die uns schon die Märchen unserer Kindheit eingeprägt haben und die wohl am ehesten dazu angetan ist, unsere Gemüter zu besänftigen, die durch die bloße Teilnahme am Alltagsleben dieses Jahrhunderts in Furcht und Schrecken
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