Rede, dass ich dich sehe
Madeleine wiedererkannt hatte, die meine Tante mir, in Lindenblütentee eingetaucht, zu verabfolgen pflegte, … trat das graue Haus mit seiner Straßenfront,
an der ihr Zimmer sich befand, wie ein Stück Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Gartenseite hinzu, der für meine Eltern nach hintenheraus angebaut worden war …, und mit dem Hause die Stadt, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Straßen, die ich von morgens bis abends und bei jeder Witterung durchmaß, … ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens, … die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee.«
Jeder von uns kennt es wahrscheinlich, wie sich aus einem Duft, einem Bild, einer Berührung ein ganzes Panorama der Erinnerung entfaltet – ein Vorgang, der meistens, vielleicht immer, an eine starke Emotion gebunden ist: Euphorie, Freude, Angst, Überraschung, Genugtuung, Schadenfreude, Zweifel, Ärger, Enttäuschung, Scham, Hilflosigkeit, Entsetzen, Trauer, Schuld – diese Gefühle sind es, an die die Erinnerung sich klammert und von denen sie sich durch die Zeit tragen läßt. Die Beispiele, die ich anführte, aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, wirken idyllisch, und ich möchte behaupten, daß wir, Zeitgenossen der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, bei dem Stichwort Erinnerung keine idyllischen Bilder aus unserem Gedächtnisspeicher heraufsteigen sehen. Konnte Jean Paul noch sagen, Erinnerung sei »das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können«, so muß George Tabori, der jüdische Schriftsteller und Mann des Theaters, in einem seiner Stücke von einem »Jubiläumsjahr« sprechen, »wo die Toten dazu verurteilt sind, sich dessen zu erinnern, was sie lieber vergessen würden, nämlich den achten Kreis der Hölle«. Und ein jeder von uns weiß, wofür dieses Dantesche Höllenbild in der Gegenwart steht: eine Kollektiverinnerung, die, ob wir es uns bewußt machen oder nicht, unserem Alltagsleben zugrunde liegt und die sich auf vielfältige Weise, beklemmend, paradox, unverständlich, unheimlich, in dieses Alltagsleben hineindrängt.
Zwischen Paradies und Hölle also: Erinnerung. Und dazwischen das Vergessen, die »dunkle Schwester der Erinnerung«, wie Hermann Hesse es nennt. Vergessen? Aber wir werden doch von einer Erinnerungsflut überspült. »Ein Bewahrungs-, Restaurierungs-, Archivierungs- und Erinnerungswahn scheint über das Land gekommen zu sein«, schreibt Silvia Bovenschen, »der sich mit seinem Gegenteil, dem barbarischen Kahlschlag, merkwürdig gut verträgt.« Die Flut besteht aus Zeitungsartikeln, Fernseh- und Rundfunksendungen, Talkshows, öffentlichen Diskussionsveranstaltungen und nicht zuletzt aus der Masse von Büchern, die eigene Erinnerungen darbieten oder Familiengeschichten aufarbeiten und oft mit einem Bekennermut, manchmal auch in einer Geständniswut deren dunkle Punkte offenlegen: »Das Outen ist zum Volkssport geworden« (Heiko Ernst). Es häufen sich die Bücher über die oftmals anrüchige Vergangenheit von Vätern, Müttern – der Zeitgeist bemächtigt sich unserer Erinnerungen. Diese Flut wälzt Wortbrocken mit sich, darunter Neubildungen, die anscheinend gebraucht werden als Orientierungspunkte in diesem düsteren Strom. »Erinnerungskultur« ist weit verbreitet, »Erinnerungsrituale« werden geübt, eine »Erinnerungsrhetorik« wird kritisiert, »Erinnerungsarbeit« dagegen geschätzt. Es gibt einen »Erinnerungsstau«, aber auch sein Gegenteil: einen »Erinnerungsmarathon«, und natürlich wird, um all dessen Herr zu werden, eine wirksame »Erinnerungspolitik« angemahnt. Silvia Bovenschen fügt Wörter wie »Erinnerungszurichtungen« und »Erinnerungserzwingung« hinzu, um das Gewaltsame in diesem Erinnerungsprozeß zu kennzeichnen, und sie zitiert Nietzsche, »für den Menschen sei es bestenfalls möglich, fast ohne Erinnerung zu sein, es sei ihm aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben«. Vergessen aber, Erinnerungsverlust, jedenfalls der Verlust bestimmter Erinnerungen, wird hierzulande als Schuld angerechnet. Darin spiegeln sich natürlich eine bestimmte Erfahrung wider, der massenhaft einsetzende Erinnerungsverlust der Deutschen nach dem Zwei
ten Weltkrieg, der ja meistens Verleugnung von Mit-Wissen und Mit-Schuld war, und die Tatsache, daß zumindest eine Generation
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