Rede, dass ich dich sehe
ich versucht zu denken: Es ist ein deutsches Wort. Darauf werde ich zurückkommen.
Ich weiß nicht, wie viele es unter Ihnen gibt, die noch das Berlin der zwanziger Jahre erlebt haben, in dem die Psychoanalyse eine etablierte, blühende Praxis und Wissenschaft war. Aber sicherlich ist niemand unter Ihnen, der nicht in diesen Tagen an die Ausschließung und Vertreibung der jüdischen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, auch durch ihre eigenen Kollegen, in der Zeit des Nationalsozialismus denken muß. Und unter den Gastgebern, den deutschen Psychoanalytikern, ist gewiß keiner und keine, der oder die sich nicht bewußt wäre, was es bedeutet, daß der Internationale Psychoanalytische Kongreß zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin tagt. Die heutige Atmosphäre ist gesättigt von Erinnerung und durchzogen von Unterströmungen, die wahrscheinlich jeder empfinden wird, die aber sicherlich nicht alle zur Sprache kommen werden. Auch ich kann nur einige Stichworte liefern, die mir zufallen. Und ich bediene mich der Literatur, die man zu großen Teilen als den Gedächtnisspeicher eines Volkes verstehen kann.
Beginnen möchte ich mit einem Gedicht. Es heißt:
»Erinnerung an die Marie A.
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiß, ich weiß schon was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.
Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.«
Dies ist für mich eines der schönsten Liebesgedichte deutscher Sprache. Bertolt Brecht schrieb es im Jahr 1920: ein Gedicht, eigentlich nicht über die Liebe, sondern über das Erinnern an eine Liebe. Über seine Flüchtigkeit, über seine Eigenart, Wich
tigstes zu vergessen und Nebensächliches unauslöschbar im Gedächtnis zu bewahren – ja, an diesem Nebensächlichen wie an einem Seil die ganze vorher nicht erinnerte Szene aus den Tiefen des Gedächtnisses heraufzuziehen: nicht das Gesicht der Frau, nicht der Kuß, sondern die Wolke … Brecht wurde anhand dieses Textes der emotionalen Kälte geziehen. Es ist der Mühe wert, darüber nachzudenken, warum vor uns, den Lesern, das Gesicht der Frau, die Landschaft, der Pflaumenbaum, obwohl nicht direkt beschrieben, anschaulich vor Augen stehen und warum dieses Bild von einer solchen Innigkeit ist. Ich weiß nicht, ob dieses deutsche Wort, »Innigkeit«, adäquat in eine andere Sprache zu übersetzen ist; ob zum Beispiel im Englischen die Wörter »tenderness«, »ardour«, »sincerity« es genau treffen. Und, da ich mich meinen Assoziationen überlasse, treibt mir das Wort »Innerlichkeit« zu: deutsche Innerlichkeit, die oft als die Kehrseite deutscher Brutalität entlarvt wurde. Brechts Gedicht hält jeden Anflug von Gefühligkeit hinter einem Schleier von Erinnerung zurück. Aber es vermittelt, sehr verhalten, die Trauer über das Schwinden gerade dieser Erinnerung. Leser, die dem Autor emotionale Kälte vorwerfen, müssen einen anderen Text, diesen Text anders gelesen haben – ein sicherlich harmloses Beispiel für die Subjektivität unserer Wahrnehmung, welche die Neurobiologie in der unermüdlichen Tätigkeit der Neuronennetzwerke in unserem Gehirn zu ergründen sucht.
Ein anderes berühmtes Beispiel für die Beschwörung von Erinnerung durch ein scheinbar unwesentliches, beliebiges Fundstück ist die Beschreibung Marcel Prousts im ersten Teil seiner Suche nach der verlorenen Zeit : wie der Geschmack eines Sandtörtchens, einer sogenannten »Petite Madeleine«, dem Protagonisten die verloren geglaubte Ansicht seines Kindheitsortes Combray in der Woge eines Glücksgefühls heraufruft: »Sobald ich den Geschmack jener
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