Rede, dass ich dich sehe
dieser Vorgang nicht nur negativ besetzt, sondern in bestimmten Situationen unverzichtbar, in denen die volle Einsicht in alle Zusammenhänge und Konsequenzen der
widersprüchlichen Realität notwendige Bewegungen lähmen würde?
Ich habe vorgegriffen. Ich will noch einmal zurückgehen, in mehreren Schritten – zunächst bis zum Jahr 1936, als Thomas Mann zum achtzigsten Geburtstag des später von den Nationalsozialisten nach England vertriebenen Sigmund Freud eine Rede hielt: Freud und die Zukunft . Das Unbewußte, sagte er da, sei jener »Bereich der Seele, dessen Erkundung und Erhellung, dessen Eroberung für die Humanität die eigentlichste Sendung gerade dieses erkennenden Geistes ist«.
»Humanität«, das ist das Stichwort, zusammengestellt, in Beziehung gebracht mit der »Erkundung und Erhellung« des Unbewußten, mit dem »Gebiet des Es«, wie Freud es einmal nennt, das der »dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit« sei und das wohl manchmal auch, wenn nicht deckungsgleich, so doch vergleichbar sein mag mit dem, was ich den »blinden Fleck« nenne. Der »unerschrockene Wahrheitsmut«, sagt Thomas Mann, mache die »Sittlichkeit der analytischen Tiefenpsychologie aus«, und er bescheinigt ihr eine »nahe Beziehung« zur Literatur. 1938 aber waren die deutschen Schriftsteller, wie viele Psychoanalytiker, wie Thomas Mann selbst, aus dem Land ihrer Sprache vertrieben. »Humanität«, »Wahrheitsmut«, »Sittlichkeit« wurden beargwöhnt und verfolgt, als Wörter kamen sie in den Drucksachen des Dritten Reiches nicht mehr vor. Alle, fast alle Vertreter einer hohen Kultur, fast alle bedeutenden Schriftsteller und Künstler, in einem Land verwurzelt, dem niemand, fast niemand einen derartigen Absturz in die Barbarei zugetraut hätte, hatten dieses Land verlassen müssen – ein einmaliger Vorgang im Europa der Neuzeit. Die Massen, ökonomisch verunsichert, wurden von den Demagogen des Nationalsozialismus durch die »systematische Verherrlichung des Primitiven und Irrationellen«, so Thomas Mann, gegen Geist und Vernunft und die Anforderungen, die sie an den einzelnen stellen, aufgebracht. Der kritische Geist war der euphorisierten, in Räusche versetzten Volksgemein
schaft unerträglich geworden, statt dessen ergab sie sich einer totalen Realitätsverweigerung, verschloß die Augen vor der Katastrophe, auf die sie zugetrieben wurde, und verjagte diejenigen, die davor warnten: nicht nur, indem sie politische Tatbestände und die Verursacher der gefährlichen Entwicklung beim Namen nannten, sondern indem sie ihrem Beruf nachgingen und einer wahnsinnsverzerrten Weltsicht die Wirklichkeit der Kunst gegenüberstellten. Viele von ihnen waren Juden und wurden zu Zielscheiben eines hemmungslosen Hasses. (Eine Zwischenfrage: Hatten die deutschen Juden in bezug auf die mörderischen Möglichkeiten in der deutschen Mentalität einen blinden Fleck?) Das Gewissen, sagte der Führer, sei eine jüdische Erfindung. Dies war der Tiefpunkt der »deutschen Misere«.
Allerdings hatten die Deutschen schon lange, eigentlich schon immer während der Neuzeit, ein gestörtes Verhältnis zu ihren Schriftstellern, deren Hervorbringungen nicht nur das Gedächtnis einer Nation, einer Kultur darstellen – Erzählen ist Sich-Erinnern –, sondern die es auf sich nehmen mußten, zu sagen und zu zeigen, was ist: der Gesellschaft ihrer Zeit den Spiegel vorzuhalten. Oft genug wollten ihre Zeitgenossen in diesen Spiegel nicht hineinsehen, ihre Züge in ihm nicht erkennen; im günstigsten Fall wendeten sie sich ab, straften den zu kühnen oder manchmal auch zu naiven Künstler durch Nichtachtung, was heißen konnte: Vereinsamung, Armut. Aber sie entwickelten auch gröbere Methoden, mit den Trägern unliebsamer Gedanken und Gefühle fertigzuwerden, ihren eigenen blinden Fleck, der ihnen ein unangefochtenes Dahinleben sicherte, vor Anfechtungen zu schützen: Die deutsche Literaturgeschichte nennt eine lange Reihe von Autoren, die verfolgt, eingesperrt, ausgestoßen, ermordet, in den Wahnsinn, in den Selbstmord und, immer schon, ins Exil getrieben wurden. Georg Büchner, der seine Rebellion gegen die sozialen Zustände in Hessen mit Flucht in die Schweiz bezahlt, läßt seinen Prinzen Leonce ausrufen: »O wer sich einmal auf den Kopf sehen könn
te!« – ein außergewöhnlich anschauliches Beispiel für das Leiden eines Menschen an der Unsichtbarkeit, Unfaßbarkeit des blinden Flecks, die sich bis ins Absurde steigern kann. – Diese
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