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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Erinnerungsfähigkeit, die, wir haben es erlebt, in den Nachkriegsjahrzehnten mühsam, allmählich, oft gegen beträchtlichen Widerstand, nicht bei allen, doch auch nicht bei wenigen Deutschen erweckt werden mußte, und zwar vor allem durch die Erinnerungen der Überlebenden der Massaker, denen sie durch die Feigheit, Habsucht, Mordlust, Teilnahmslosigkeit, Blindheit ihrer Nachbarn, Freunde, Bekannten, Kollegen, Mitbürger preisgegeben waren. Sie, die Opfer, reißen, indem sie sich, oft in ihrer Literatur, erinnern, den teilerblindeten Zeugen den Vorhang vor deren Erinnerungen weg, sie öffnen ihnen die Augen, so daß sie die Vergangenheit und in einem schmerzhaften Prozeß sich selbst sehen müssen, so, wie sie waren; daß sie sich, eine schwere Kränkung, eine neue »Geschichte von ihrem Ich« erzählen müssen. Und daß ihnen,
wenn sie die Wahrheit der Opfer und die Einsicht in eigene Mitschuld annehmen können, die Möglichkeit geschenkt wird, in einer andauernden Auseinandersetzung mit sich selbst den verschütteten Kern ihrer Persönlichkeit freizulegen und sinnvoll – was auch heißt: mit allen Sinnen – zu leben. Ich glaube, das ist ein einmaliger Vorgang.
    Wie konnte es zu Auschwitz kommen? Wo immer man an die deutsche Geschichte rührt, stößt man auf diese Frage.
    Schon lange ist von der »deutschen Misere« die Rede, vom »unglücklichen Bewußtsein« der Deutschen, wenn sie Ursachen für die Abgründe in der deutschen Geschichte suchen. Nach den in Blut erstickten Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts gab es in Deutschland – in den deutschen Ländern – keine geglückte Revolution. Ein selbstbewußtes Bürgertum konnte sich nicht entwickeln, nicht der Citoyen, sondern der Bourgeois wurde zum Mehrheitstyp, die Kleinstaaterei beförderte Untertanengeist und bürokratisches Beamtentum: Die »verspätete Nation« blähte sich auf in einem aggressiven Militarismus, dessen Kehrseite ein Hang zu Idylle und Sentimentalität war, zu »Gemütlichkeit«, ein deutsches Wort, für das es in unseren Nachbarsprachen keine Entsprechung gibt. Eine Mentalitätsmischung, die einen Nährboden für Minderwertigkeitskomplexe und für Grausamkeit abgab und die ganz sicher nicht Realitätssinn und nüchternes, selbstkritisches Denken beförderte. Bertolt Brecht charakterisierte es so:
     
    »O Deutschland, wie bist du zerrissen
    Und nicht mit dir allein!
    In Kält' und Finsternissen
    Läßt eins das andre sein.
    Und hätt'st so schöne Auen
    Und reger Städte viel;
    Tät'st du dir selbst vertrauen
    Wär' alles Kinderspiel.«
     
    Diese Zeilen schrieb Brecht 1952, mitten im kalten Krieg, dessen Front durch Deutschland ging, es in zwei Länder spaltete, von denen jedes, gebraucht für die Interessen der jeweiligen Großmacht, von der es abhängig war, diese Spaltung auch als Entlastung von der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, als Vermeidung von Schuldaufarbeitung nutzen konnte und als Belastung für »die anderen« – um den Preis, daß der je andere Landesteil zum blinden Fleck wurde. Was sich im sogenannten Vereinigungsprozeß dann zum Erstaunen vieler Politiker überdeutlich zeigte: Wir hatten, im Westen mehr als im Osten, mit den Rücken zueinander gelebt (»In Kält' und Finsternissen läßt eins das andre sein …«), bezogen unsere Kenntnis voneinander anstatt aus gelebter Erfahrung miteinander zumeist aus zweiter Hand, aus oft tendenziösen oder nicht genau unterrichteten Medien, die, je nach Standort, Hoffnungen, Wünsche, Ängste, Abscheu, Idealisierung, Aggressivität nährten. Schwerwiegende Fehlentscheidungen waren danach unvermeidlich, Enttäuschung, zeitweilig Nostalgie waren vorprogrammiert.
    Doch möchte ich diesen Prozeß der Realitätsfindung, zu dem übrigens eine gar nicht einfache Auseinandersetzung mit den je eigenen Erinnerungen gehört, nicht in die Kategorie »unglückliches Bewußtsein« der Deutschen einordnen – allein deshalb nicht, weil an seinem Beginn eine revolutionäre Bewegung in der DDR stand, deren Mut, Entschlossenheit, Solidarität, Toleranz, Humor, Einfallsreichtum niemand vergessen wird, der sie mitgemacht hat. Ja, sie war in ihrer ersten Phase auch getragen von einer Utopie, ohne die derartige Volksbewegungen nicht denkbar sind, sie war auf ein Ziel hin aufgebrochen, das nicht zu verwirklichen war – soll man dieses Verkennen der Möglichkeiten, welche die historischen Verhältnisse hergaben, durch die damals Handelnden ihren »blinden Fleck« nennen? So wäre

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