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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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relativierte. Und Günter Grass hat in seinem kürzlich erschienenen autobiographischen Buch Beim Häuten der Zwiebel an vielen, gerade auch an wichtigen Stellen Erinnerungslücken zugegeben und gekennzeichnet und andererseits kurioses Material präsentiert, welches sein Gedächtnis aus unergründlichen Ursachen konserviert hat. Autobiographisches Schreiben muß, jedenfalls in unserer Zeit, Selbsterforschung sein, was heißt, in die Untiefen der eigenen Erinnerung abzutauchen, Schmerz und Scham zu erfahren und die Funde, die man in die Bewußtseinshelle heraufbringt, in ihrer Authentizität immer wieder in Frage zu stellen. Auch wenn die Neurobiologie die Gehirnregion für das autobiographische Gedächtnis gefunden hat – sie kann nichts sagen über die psychologischen Gesetze, nach denen es arbeitet.
    Einige Autoren führen, wie Powers, das magische Wort schon im Titel: Nabokow zum Beispiel, in seiner Autobiographie Erinnerung, sprich! – ein Buch, in dem er frühe Erinnerungen immer wieder durch später gewonnene Erkenntnisse korrigiert, »überschreibt«, und so zu verstehen gibt, daß Erinnern ein Prozeß ist, der nie zur Ruhe kommt.
    Und, besonders erhellend, Saul Friedländers Buch Wenn die Erinnerung kommt . Ein Text, der zu dem großen Fundus der Erinnerungsliteratur von Überlebenden der nationalsozialistischen Massenverfolgungen gehört, die dieser Autor als Kind erlebt, das seine Eltern weggeben, um es zu retten, während sie selbst in einem KZ ermordet werden. Dieses Kind, in streng katholischem Glauben erzogen, den es verinnerlicht, bemüht sich nach vielen Jahren, als Erwachsener in Israel, die verschiedenen
Schichten seiner Person freizulegen. Er stellt seinem Buch ein Motto von Gustav Meyrink voran: »Allmählich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe.«
    Ich frage mich, was wir wissen, wie wir denken, fühlen, sein würden ohne diese Literatur. Ohne die Erinnerungen dieser zumeist jüdischen Autoren, die das fast Unmögliche unternommen haben, von einer Erfahrung zu berichten, der mit Worten wie »Holocaust«, »Shoah« nicht beizukommen ist. Ich frage mich, ob Deutschland, ob Europa nach Auschwitz wieder »gesunden« kann. Im Erinnern, wenn wir uns umdrehen, müßte der Schrecken uns versteinern, darum hielt ein »gesunder« Instinkt die meisten davon ab, zurückzublicken, sie zogen es vor, in Amnesie zu versinken und sich in einem Arbeitsrausch dem Wiederaufbau zu widmen. Eine eigene Überlegung wäre es wert, ob nicht die deutsche Teilung, psychologisch gesehen, die Bevölkerung beider deutscher Teilstaaten entlastet, Schuldgefühle abgespalten und zurückgedrängt hat.
    Erinnerung hat mit Gewissen zu tun. Hitler hatte verkündet, das Gewissen sei eine jüdische Erfindung. Ohne Erinnerung kein Gewissen. Kommt beides – Gewissen und Erinnerung – vielleicht aus einer Wurzel?
    Erinnerung ist human.
    Hier sind einige Zeilen von Nelly Sachs, die buchstäblich in letzter Minute mit ihrer Mutter vor der Deportation gerettet werden konnte:
     
    »Aber mitten in der Verzauberung spricht eine Stimme klar
 und verwundert:
    Welt, wie kannst du deine Spiele weiter spielen
    und die Zeit betrügen –
    Welt, man hat die kleinen Kinder wie Schmetterlinge,
    flügelschlagend in die Flamme geworfen –
    und deine Erde ist nicht wie ein fauler Apfel
    in den schreckaufgejagten Abgrund geworfen worden –
     
    Und Sonne und Mond sind weiter spazierengegangen –
    zwei schieläugige Zeugen, die nichts gesehen haben.«
     
    »… die nichts gesehen haben …«: Die Nachbarn, Bekannten, Kollegen, Mitbürger, die als Zeugen für die Verbrechen an jenen Opfern ausfielen – befallen von einem Defekt, der massenhaft auftrat: der »blinde Fleck«. Ursprünglich, physiologisch gesprochen, handelt es sich um den »lichtunempfindlichen Fleck der Netzhaut des Wirbeltierauges im Bereich des Sehnerveneintritts«. Im übertragenen Sinn signalisiert er die Wahrnehmungsschwäche, oft Abwehr, einer Person – oder einer Gruppe von Personen – gegenüber bestimmten Realitätssegmenten, gern gegenüber moralischen Reizen. Keiner von uns ist ohne blinden Fleck oder ohne blinde Flecke, Schutzmechanismen gegenüber Wahrheiten und Einsichten, die, zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt, unerträglich wären. Eine Bevölkerung aber, die sich in ihrer Mehrheit gegenüber allen Untaten erblinden macht, leidet an einem gefährlichen Defizit, an einer schwer beschädigten

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