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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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lebten in einer Zeit«, schrieben Sie, »die nicht groß war, aber böse und grausam, in der es vielleicht schwer war, durchzukommen, aber leicht, zu wissen, was man zu tun hatte.« Einer Ihrer Sätze, die mir Anlaß zur Selbstprüfung waren: Wußte ich denn immer, was ich zu tun hatte?
    Sie und Goldy gehörten und gehören zu den wenigen Menschen, die ich traf, die frei waren und sind: »Frei zu tun, was
man selbst für richtig hält.« Und zwar kompromißlos und unerschütterlich. Das muß in einer Gesellschaft, die auf Anpassung ausgerichtet ist, Gegner schaffen. Beinahe genußvoll konnten Sie davon erzählen. Aber es schafft auch Freunde. Magnetisch zogen Sie beide Menschen an, die Alternativen suchten wie Sie selbst. Sie waren eine solche Alternative. Sie sammelten eine brüderliche Gemeinschaft um sich, in der Sie aufgehoben und glücklich waren und sind – mit der Einschränkung, daß Ihr Lebensglück durch den Tod Ihrer Gefährtin Sie verlassen hat.
    Bei Ihnen lernte ich, daß man äußerst skeptisch sein kann »gegenüber den menschlichen Verhältnissen«, wie ja auch Ihr Lehrer Sigmund Freud es war, und doch nicht griesgrämig werden muß: heiter, freundlich, souverän das Leben genießen, von sich selbst und von den Mitstreitern eine moralische Anstrengung verlangen, ohne sich zu verkrampfen, erkennen, wie viel von dieser Anstrengung scheinbar erfolglos bleibt, und doch nicht bitter werden, sondern der Aufklärung verpflichtet bleiben. Einen »moralischen Anarchisten« haben Sie sich gelegentlich genannt, einen fröhlichen Anarchisten würde ich Sie nennen. Und da möchte ich jetzt endlich das Wort ins Spiel bringen, das mir schon die ganze Zeit über auf der Zunge liegt und das so unzeitgemäß wie möglich ist: das Wort »Utopie«. Wenn dieses Bild erlaubt wäre, würde ich sagen: Alles, was Sie tun und denken, was Sie sagen und schreiben, war und ist durchtränkt, gesättigt von Utopie. Von den Gestalten in einem Ihrer Bücher sagen Sie es direkt: »Sie wollen mehr, ein richtiges, großes Gewissen. Alles soll gerechter werden, womöglich die ganze Welt.« Alle Ihre Figuren in den Büchern, die Sie spät im Leben zu schreiben begannen, mit so viel Erfolg, sind auf der Suche nach einer tieferen Erfüllung hinter der Banalität des Alltagslebens. Einmal, natürlich in dem von Ihnen geliebten Afrika, reisen Sie mit Ihren Gefährten nach Tabou, in jene Stadt, die das Zentrum aller Sehnsüchte zu sein scheint. Was Sie erfahren, ist kein Wunder, sondern »nur« das gesteigerte
Normale, das konzentriert Menschliche. Ein besonderes, unvergeßliches Licht.
    Lieber Paul Parin, was sage ich Ihnen zu diesem Geburtstag? Mein Leben wäre ärmer ohne Sie. Ich versuche, mich zu halten an Ihren Wahlspruch: »Inseln von Vernunft in einer irrsinnig selbstgefährdeten Welt schaffen.«
    Ich umarme Sie, Ihre
    Christa Wolf
     
    2006

Zu Rummelplatz von Werner Bräunig

    Wenn ich dieses Manuskript lese – denn ich habe es gelesen, ehe es ein Buch wurde –, steigt eine Fülle von Erinnerungen in mir auf. Es war das Jahr 1965. Ich sehe einen Versammlungsraum, in dem von »oberster Stelle« der Vorabdruck eines Kapitels aus diesem Manuskript scharf kritisiert wurde – eine Kritik, die, trotz Widerspruchs einiger Kollegen von Werner Bräunig, wenig später vor dem wichtigsten Gremium der Partei wiederholt wurde, und, wie ich glaube, den Autor entmutigt hat, diesen Roman weiter, zu Ende zu schreiben. Er bestritt das, er wollte mit seiner Prosa »teilhaben an der Veränderung der Welt«, und er sah, nach einem schwierigen, wechselvollen Lebenslauf, in der DDR , die ihm den Weg zum Schriftsteller ermöglichte, die Voraussetzungen für diese Veränderung, wie viele unserer Generation, zu der er, etwas jünger, noch gehörte. Eben darum konnte die Kritik, die sein Manuskript als mißlungen, sogar als schädlich bezeichnete, ihn so tief treffen. Er hat in sich keinen Widerstand dagegen aufbauen können. Er hat sich nur noch an Erzählungen gewagt. Einen zweiten Romanversuch hat er früh abgebrochen.
    Von diesem hier aber, der nicht von Anfang an in der Öffentlichkeit Rummelplatz hieß, fand sich ein umfangreiches Konvolut im Nachlaß von Bräunig, der mit zweiundvierzig Jahren starb, an der Krankheit Alkohol. Mit wachsendem Erstaunen, bewegt las ich diese wirklichkeitsgesättigte Prosa. Die Schauplätze, die Arbeitsvorgänge, die er in erstaunlicher und wohl beispielloser Genauigkeit beschreibt, kannte ich nicht, aber mir war

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