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Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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beim Lesen, als würde Bekanntes in mir wieder wachgerufen: Die Atmosphäre jener Zeit. Der Lebensstoff, den wir als aufregend, neu, herausfordernd erlebten und dem wir mit unseren Büchern gerecht werden wollten, scheinbar in Übereinstimmung mit den Aufrufen der Partei, der Bräunig ange
hörte, bis viele Autoren zu nahe, zu realistisch, vor allem kritisch an diesen Stoff herangingen und erfahren mußten: So war es nicht gemeint. Ein Buch wie dieses von Werner Bräunig hätte, wenn es nur erschienen wäre, Aufsehen erregt, es wäre in mancher Hinsicht als beispiellos empfunden worden. Noch einmal fühle ich nachträglich den Verlust, die Leerstelle, die dieses Nicht-Erscheinen gelassen hat.
    Kann es heute noch wirken, nach vierzig Jahren? Nicht auf dieselbe Weise natürlich, wie es damals gewirkt hätte. Aber auch nicht nur als ein historisches Relikt, als ein Archiv-Fund. Dazu ist der Text zu lebendig, und, wie ich glaube, auch zu spannend. Mag sein, daß ehemalige Bürger der DDR ihn anders, beteiligter lesen als Westdeutsche. Die aber, vorausgesetzt, sie interessieren sich dafür, wie wir gelebt haben, finden in diesem Buch wie in wenigen anderen ein Zeugnis eben dieser Lebensverhältnisse, der Denkweise von Personen, ihrer Hoffnungen und der Ziele ihrer oft übermäßigen Anstrengungen. Und vielleicht auch die Möglichkeit, dafür Verständnis und Anteilnahme aufzubringen.
     
    2007

»Jetzt mußt du sprechen«
    Zum 11. Plenum der SED
    Die Artikelserie, in die sich dieser Beitrag einfügt, steht unter der Überschrift »Mein Deutschland«. Gemeint ist die Bundesrepublik zu ihrem sechzigsten Jahrestag. Folgerichtig sind von fünfundzwanzig Themen zwanzig der Geschichte des westdeutschen Staates gewidmet. Fünf der Autoren auf dieser Liste haben in der DDR gelebt und sollen Themen behandeln, die das äußerst kritische Bild von diesem zweiten deutschen Staat befestigen – Beiträge zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Aufnahme dieser kleinen »ostdeutschen« Gruppe einerseits eine Alibifunktion hat, andererseits dazu beiträgt, dem differenzierten Bild von der Bundesrepublik Deutschland eine ausschließlich düstere Sicht auf die DDR gegenüberzustellen und damit dem Zeitgeist Genüge zu tun. (Daß dies womöglich schon unbewußt geschieht, verstärkt nur die tiefgreifende Wirkung ständiger Wiederholung von inzwischen beinahe sakrosankten Thesen.)
    Warum schreibe ich trotzdem – übrigens nicht zum ersten Mal – über das mir von der Redaktion angetragene Thema: »Mein 11. Plenum«? Meine Erfahrung lehrt mich, daß dieses Datum, das DDR -Bürgern etwas bedeutete, den meisten ehemaligen Bundesbürgern nichts sagt. Also sollte ich wohl die Chance wahrnehmen, über den Vorgang zu berichten, der sich hinter diesem Datum verbirgt und an dem ich unmittelbar beteiligt war: das 11. Plenum des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Dezember 1965.
    Es hat in meinem Leben eine einschneidende Rolle gespielt. »Einschneidend« – wodurch? Da muß ich weiter ausholen und dabei, wieder einmal, meine Erinnerung überprüfen, einge
denk des Benjaminschen Diktums, daß »wirkliche Erinnerung zugleich ein Bild von dem, der sich erinnert«, geben müsse.
    Ich war, damals Kandidatin des ZK der SED , dabei. Diese Tagung war eines der aufwühlendsten Erlebnisse meines bisherigen politischen Lebens. Was weiß ich noch von diesem 11. Plenum? Wie immer: das, was mich emotional am meisten bewegt hat. Daß es ein Kulturplenum war, auf dem Kultur und Kunst – besonders die Filmkunst, aber auch Autoren wie Stefan Heym, Wolf Biermann, Werner Bräunig – als Sündenböcke für gravierende Widersprüche in anderen Bereichen der Gesellschaft mißbraucht und, durch vernichtende Kritik im höchsten Gremium der Partei, in ihrem Bestand und in ihrer Entwicklung nachhaltig geschädigt wurden. Daß die aggressive, denunziatorische Atmosphäre, die sich im Plenum ausbreitete, für mich schwer auszuhalten war. Daß ich mich schließlich genötigt sah, am dritten Tag das Wort zu ergreifen.
    Alles richtig, bis auf eins. Mir war entfallen, was ich bei Durchsicht der Materialien feststellen mußte: daß dieses 11. Plenum keineswegs nur ein Kulturplenum war. Ich bin überrascht, daß ich »vergessen« hatte, welch einen Umfang wirtschaftliche Fragen in den dreieinhalb Verhandlungstagen einnahmen. Da sie mich nicht im gleichen Maß betrafen wie die Auseinandersetzung

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