Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rede, dass ich dich sehe

Rede, dass ich dich sehe

Titel: Rede, dass ich dich sehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
mit der Kunst, hat meine Erinnerung sie fallenlassen und gibt mir jetzt, durch Dokumente gestützt, einige Einzelheiten heraus, die das Gesamtbild wesentlich vertiefen.
    Es ist ja wahr: Seit 1963 war in der Wirtschaft der DDR , übrigens auf Initiative Walter Ulbrichts, das »Neue ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« ( NÖSPL ) eingeführt worden – ein Versuch, durch mehr Selbstverantwortung der Betriebe und eine gewisse Entbürokratisierung die ungenügende Effizienz der Produktion zu erhöhen. Dieser Versuch, ohne den sowjetischen Partner unternommen, mußte scheitern, unter anderem, weil effizientere wirtschaftliche Strukturen eine Demokratisierung der politischen Strukturen vorausgesetzt hätten. Die aber erschien der Führungselite
als drohender Machtverlust und wurde blockiert. Schließlich hatte ein Besuch von Leonid Breschnew, dem neuen sowjetischen Generalsekretär, diesen Alleingang der DDR unterbunden. Das 11. Plenum mußte nun, anders als geplant, den Wirtschaftsfunktionären diesen Kurswechsel offenbaren, ohne ihn eigentlich beim Namen zu nennen: Die Klemme, in der die DDR außen- und innenpolitisch zeit ihres Bestehens steckte, erzwang wieder einmal extreme, destruktive Maßnahmen.
    Seit Anfang der sechziger Jahre hatte eine Reihe von Autoren – auch ich – Beziehungen zu Betrieben, zu Wirtschaftsfunktionären, zu Arbeitern. Wir kannten ihre Probleme und schrieben über sie. (Auch die Erzählung Der geteilte Himmel hatte wesentlich Stoff aus dieser Verbindung gewonnen.) Sogar Mitglieder des ZK der SED , die mit im Plenum saßen, sprachen offen mit mir über den unübersehbaren Reformbedarf in der Wirtschaft der DDR . Der Selbstmord eines hohen Wirtschaftsfunktionärs, Erich Apel, kurz vor diesem Plenum wurde als alarmierendes Krisenzeichen gedeutet. Gerüchte und Vermutungen über die Gründe für diese Tragödie machten die Runde und bestimmten die Atmosphäre vor dem Beginn der Tagung.
    Da bewies Walter Ulbricht wieder einmal seinen Instinkt für Massenstimmungen und erklärte gleich am Anfang: Wer wolle, könne ein hinterlassenes Tagebuch von Erich Apel einsehen, aus dem hervorgehe, daß er an einer Depression gelitten habe. Die Partei müsse daraus die Konsequenz ziehen, die gesundheitliche Betreuung ihrer Kader weiter zu verbessern. – Niemand hat Einblick in dieses Tagebuch verlangt, leider auch ich nicht. Nach dem Ende der DDR hat mir die Witwe Erich Apels gesagt, nach ihrem Wissen habe es niemals Tagebuchaufzeichnungen ihres Mannes gegeben.
    Das 11. Plenum machte auch Schluß mit einer liberaleren Jugendpolitik, welche eine bestimmte Gruppierung in der Partei nach dem Mauerbau eingeleitet hatte: der Jugend mehr Vertrauen, mehr Verantwortung. Das hatte sich aus der Sicht der
Funktionäre nicht bewährt, an mehreren Orten hatte es, zum Teil im Zusammenhang mit Rockkonzerten, Jugendkrawalle gegeben. Schuldige wurden gesucht und unter den Kulturschaffenden gefunden. Mit wachsender Bestürzung mußte ich hören, daß die Defa-Filme der letzten ein, zwei Produktionsjahre, die noch gar nicht in den Kinos waren, für das Fehlverhalten der Jugendlichen verantwortlich gemacht wurden.
    Den ZK -Mitgliedern wurde in einer Mappe tendenziöses Material über diese Filme übergeben, und in den Pausen und abends wurden einige davon vorgeführt, in einer unbeschreiblich hysterischen Atmosphäre. Ich konnte sie mir in diesem Umfeld nicht ansehen.
    Am zweiten Tag sprach der besonders aggressive Erste Sekretär der Bezirksleitung Leipzig, Paul Fröhlich, und verglich bestimmte Vorgänge im Schriftstellerverband mit dem Petöfi-Club 1956 in Ungarn – das heißt, mit einer als konterrevolutionär eingestuften Vereinigung. Ich wußte: Wenn das unwidersprochen blieb, war der Schriftstellerverband Freiwild für jegliche »Disziplinierungs«maßnahmen. Abends war ich bei Konrad Wolf, mit dem ich seit der Arbeit am Film Der geteilte Himmel befreundet war. Er war so entsetzt wie ich. Jetzt mußt du sprechen! sagte er. Ich übernachtete bei Jeanne und Kurt Stern, alte Genossen, Spanienkämpfer, Filmautoren, Übersetzer. Wir diskutierten bis in die Nacht hinein, ich schlief kaum, kritzelte mir ein paar zusammenhanglose Notizen auf einen Zettel und meldete mich am nächsten Tag zu Beginn der Sitzung zu Wort. Obwohl es eine längere Liste von Wortmeldungen gab, wurde ich sehr bald aufgerufen.
    Die Illusion, daß mein Einspruch den Verlauf der Tagung verändern könnte, hatte ich nicht. Ich

Weitere Kostenlose Bücher