Reden macht Leute
erleben Sie, wenn Sie zur richtigen Zeit und vor dem richtigen Publikum das Richtige sagen. Diese Kunst kann Ihnen leider kein Rhetorikseminar lehren. Doch bietet Ihnen hier die freie Rede Möglichkeiten, ein Gespür zu entwickeln, was in welcher Situation angemessen ist. Auch dieses Stichwort „angemessen“ spielte bereits in der antiken Rhetorik eine wichtige Rolle. Es heißt im Griechischen „prepon“ und im Lateinischen „aptum“.
„Frei“ reden bedeutet somit, dass Sie trotz Vorbereitung und Spickzettel oder anderen Visualisierungshilfen so frei sind, dass Sie sich auf den Hörerkreis einstellen können.
Deshalb ist eine auswendig gelernte Rede ebenso wenig „frei“ wie eine abgelesene. In beiden Fällen ist es nicht möglich, sich spontan auf die Hörer einzustellen. Doch genau darin liegt der Vorteil, aber auch die Gefahr der freien Rede. Vorteil, weil Sie selbst bei gründlicher Höreranalyse nicht genau wissen, wie sich Ihr Publikum verhält. Sie können bei einer freien Rede Passagen kürzen, erweitern, Punkte weglassen oder Neues einfügen. Diese Freiheit birgt allerdings die Gefahr, dass Sie Ihren „roten Faden“ und die Kontrolle über die Redezeit verlieren. Um dies zu vermeiden, lesen Sie bitte die Seite 114 f.
Genieren Sie sich nicht, einen Spickzettel zu benutzen. Selbst wenn Sie ihn während Ihrer Rede nicht brauchen, ist das kein Argument gegen den Spickzettel. Artisten machen ihre Kunststücke am Trapez heute auch überwiegend mit Netz und brauchen es nur selten als Schutz vor ernsthaften Verletzungen.
Warum sollten Sie ohne Spickzettel reden? Ist dies nicht eher ein gewisses Imponiergehabe , nämlich den anderen zu beweisen, wie schlau „Mann“ ist, weil „Mann“ sich alles im Kopf merken kann? Wie dumm ein solches Verhalten ist, habe ich vor vielen Jahren bei der Eröffnung eines Universitätsballes erlebt.
Beispiel:
Der Rektor, neu im Amt, trug zur Begrüßung ein selbst verfasstes längeres Gedicht in Hexametern vor. Schon bald hatte er seinen ersten Blackout. Nach einer kurzen Besinnungspause sprach er weiter. Vielleicht hat ihn sein Blackout geärgert, vielleicht haben die Hörer nicht so reagiert, wie er sich das vorgestellt hatte. Vielleicht war einfach das Lampenfieber stärker als vermutet, auf jeden Fall riss ihm noch einmal der Faden. Jetzt wurde die Pause schon merklich länger. Einige Studierende wurden unruhig, andere grinsten oder feixten. Auch hier fand er wieder den Anschluss. Da aber bekanntlich aller guten Dinge drei sind, blieb er ein drittes Mal stecken. Jetzt endgültig. Er fing an, in sämtlichen Taschen seines Anzuges nach seinem Spickzettel zu suchen. Der befand sich natürlich in der zuletzt durchsuchten Tasche. Er faltete ihn umständlich auseinander, setzte außerdem noch seine Brille auf und las dann den Schlussvers vor. Der darauf folgende Beifall war mit Lachen und Kichern durchsetzt. Leider war der Rektor nicht in der Lage, einen Witz auf eigene Kosten zu machen, was die Ballbesucher sicher ganz toll gefunden hätten. So war ihm die ganze Angelegenheit offensichtlich peinlich, und er trat sehr schnell von der Bühne ab. Im Jahr darauf las er seine Rede ab. Schade!
Liebe Leserinnen und Leser, wenn Sie imponieren wollen, dann bitte durch Sachkenntnis und eine rhetorisch wirkungsvoll formulierte und frei nach Stichworten vorgetragene Rede. Trotz dieses Appells bin ich fast sicher, dass Sie – falls Sie sich zu den Unerfahrenen zählen – immer noch dazu neigen, Ihre erste Rede wortwörtlich auszuarbeiten, um sie abzulesen. Warum? Der „ Perfektionswahn “ treibt Sie dazu (Hinweise zum Ablesen auf Seite 54 ff.). Bei einer freien Rede kommen hin und wieder grammatikalische Fehler vor, über die Sie sich ärgern. Oder Sie sind mit Ihren Formulierungen unzufrieden. Oder Sie fürchten sich vor Blackouts. Schlimmer als vereinzelte Formulierungsschwierigkeiten ist, dass Sie durch das Ablesen den Kontakt zu Ihren Hörern verlieren. Im Übrigen sind Ihre Hörer gewissen Unzulänglichkeiten Ihrer Rede gegenüber meist viel nachsichtiger als Sie selbst, oder sie bemerken diese erst gar nicht. Es mag zwar sein, dass Sie sich bei einer abgelesenen Rede sicherer fühlen, doch wirkt die Beziehung zu den Hörern überzeugender als perfekt formulierte Sätze.
Praxis-Tipp:
Haben Sie den Mut, zu stocken oder sich zu verhaspeln oder Satzbaufehler zu machen. Denken Sie daran, Sie überzeugen in erster Linie durch Ihre Person, durch das „Ethos“, die
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