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Reflex

Reflex

Titel: Reflex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dick Francis
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Wintertage um halb eins, und obwohl ich in den ersten beiden Rennen nicht ritt, mußte ich eine Stunde vor dem dritten da sein, sonst würde Harold verrückt spielen.
    Ich sah keine Sammelgruppen der ›Auserwählten‹. Überhaupt keine Gruppen. Keine singenden Leute mit rasierten Köpfen und Glöckchen oder etwas dergleichen. Statt dessen berührte ein lächelndes Mädchen mich am Arm und fragte, ob ich einen hübschen Briefbeschwerer kaufen wollte.
    Der Stein lag in ihrer Handfläche, keilförmig, grünbraun und poliert.
    »Ja«, sagte ich. »Was kostet er?«
    »Es ist für einen wohltätigen Zweck«, sagte sie. »Soviel Sie wollen.« Mit der anderen Hand brachte sie ein hölzernes Kästchen zum Vorschein, mit einem Schlitz im Deckel, aber ohne den Namen irgendeines Wohltätigkeitsvereins auf den Seiten.
    »Was für ein wohltätiger Zweck?« fragte ich freundlich und angelte nach meiner Brieftasche.
    »Für viele gute Zwecke«, sagte sie.
    Ich nahm eine Pfundnote heraus, faltete sie und schob sie durch den Schlitz.
    »Gibt es hier viele Sammlerinnen?« fragte ich.
    Sie drehte unwillkürlich den Kopf zur Seite, und als ich ihrem Blick folgte, sah ich ein anderes Mädchen, das jemandem, der an einer Bushaltestelle wartete, einen Stein anbot, und auf der anderen Straßenseite noch eines. Alle waren hübsch, trugen normale Kleidung und lächelten.
    »Wie heißen Sie?« fragte ich.
    Sie lächelte noch breiter, als wäre das Antwort genug, und gab mir den Stein. »Vielen Dank«, sagte sie. »Ihre Gabe wird viel Segen bringen.«
    Ich beobachtete, wie sie die Straße hinunterging, einen anderen Stein aus der Tasche ihres Glockenrocks zog und eine freundlich aussehende alte Dame ansprach. Für Amanda war sie zu alt, dachte ich, obwohl das nicht immer so leicht einzuschätzen war. Vor allem wegen des überirdisch frommen Gesichts, das offenbar alle Mädchen wie ein Abzeichen zur Schau trugen, wie mir kurz darauf klar wurde, als ich einer anderen Steinverkäuferin vor die Füße lief.
    »Möchten Sie einen Briefbeschwerer kaufen?«
    »Ja«, sagte ich, und das ganze Spiel wiederholte sich.
    »Wie heißen Sie?« fragte ich.
    »Susan«, sagte sie. »Und Sie?«
    Diesmal lächelte ich sie an, schüttelte den Kopf und ging weiter. Binnen einer halben Stunde kaufte ich vier Briefbeschwerer. Zum vierten Mädchen sagte ich: »Ist Amanda heute morgen unterwegs?«
    »Amanda? Bei uns gibt’s keine …« Sie stockte, und auch ihr Blick nahm einen verräterischen Weg.
    »Schon gut«, sagte ich, als hätte ich nichts bemerkt.
    »Danke für den Stein.«
    Sie lächelte das strahlende, leere Lächeln und ging weiter, und ich wartete eine Weile, bis ich mich unauffällig an das Mädchen heranpirschen konnte, in dessen Richtung sie geblickt hatte.
    Sie war jung, klein, hatte ein glattes Gesicht, sonderbar leer um die Augen, und trug einen Anorak und einen schwingenden Rock. Sie hatte mittelbraunes Haar wie ich, aber es war glatt, nicht lockig, und ich konnte keine Ähnlichkeit zwischen unseren Gesichtern feststellen. Sie konnte das Kind meiner Mutter sein oder auch nicht.
    Der Stein, den sie mir hinhielt, war dunkelblau mit schwarzen Flecken und hatte die Größe einer Pflaume.
    »Sehr hübsch«, sagte ich. »Was kostet der?«
    Ich bekam die Standardantwort und gab ihr ein Pfund.
    »Amanda«, sagte ich.
    Sie zuckte zusammen. Sie sah mich zweifelnd an. »Ich heiße nicht Amanda.«
    »Wie dann?«
    »Mandy.«
    »Mandy und weiter?«
    »Mandy North.«
    Ich atmete sehr ruhig, um sie nicht zu beunruhigen, und lächelte und fragte sie, wie lange sie schon auf der ›Zephyr Farm‹ lebte.
    »Mein ganzes Leben lang«, sagte sie einfach.
    »Bei deinen Freunden?«
    Sie nickte. »Sie beschützen mich.«
    »Und bist du glücklich?«
    »Ja, natürlich. Wir tun Gottes Werk.«
    »Wie alt bist du?«
    Ihr Mißtrauen kehrte zurück. »Achtzehn … seit gestern … aber ich darf nicht über mich reden … nur über die Steine.«
    Sie wirkte auffallend kindlich. Sie schien nicht direkt geistig zurückgeblieben, aber im hergebrachten Sinne einfältig. Es war kein Leben in ihr, keine Freude, keine erwachende Weiblichkeit. Im Vergleich zu normalen, aufgeweckten Teenagern wirkte sie wie eine Schlafwandlerin, die noch nie mit dem Tag in Berührung gekommen ist.
    »Hast du noch mehr Steine?« fragte ich.
    Sie nickte und holte noch einen Stein aus ihrem Rock hervor. Ich bewunderte ihn und willigte ein, ihn zu kaufen, und während ich eine weitere Pfundnote herauszog,

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