Regeln des lächerlichen Benehmens (German Edition)
sein. Den gemeinsamen Code akzeptieren. Wie sie sein. Das bedeutet unter anderem auch zu lernen, ordentlich zu hassen. Egal wen. Aufzuhören, sich für dieses gehässige Stück Scheiße zu schämen, das einem ewig am Arsch runterhängt, zumindest wenn man aus Prag ist.
In London, in München und überall sonst in dieser Richtung kam’s mir auch nicht viel lustiger vor. Bloß meistern die dort den Zerfall mit Nonchalance, mit Noblesse. Mit der Würde der Geschichte, die etwas wert war, etwas bedeutet hat. Während uns hier im Abseits jede Form von Noblesse fremd ist. Also bleibt uns nichts übrig, als ein paar Etappen zu überspringen und zu akzeptieren, dass wir eine Kolonie ohne Potenzial sind, die niemanden interessiert.
25 DIE BLINDE IST INZWISCHEN EINMAL RUM UND KOMMT JETZT VON DER ANDEREN SEITE. Sie verschwindet zwischen den Säulen und taucht wieder auf. Zack und zack. Fräuleins springen zur Seite. Hübsch frisierte Rübchen drehen sich verblüfft um. Einige zischen kurz, andere schweigen vor Schreck. Die pummeligen Töchter Nippons hingegen, die ihre Erfahrungen mit der versteckten Kamera gemacht haben, kichern mit aller Kraft.
Die nasskalte Kellerluft, die aus dem Tunnelmaul weht, riecht nach etwas Verdorbenem. Langgezogene Geigentöne aus dem Untergrund mischen sich mit dem entfernten Rumpeln und Donnern aneinander vorbeifahrender Züge. Von den Tropfsteinen, die zwischen den Kabeln herauswachsen, rinnt rostiges Wasser.
Neben mir stehen zwei Gymnasiastinnen mit Kapuzenshirts dumm in der Gegend rum. „Ähm, ich schmier mir den ganzen Körper mit Kokosbutter ein“, meditiert die eine, „auf die Nägel reib ich mir Kokos öl, ähm, und dann mal gucken …“ Ihre Mitschülerin nickt, wirft ihren Popperscheitel herum und verschickt eine SMS.
Die Behinderte nähert sich, sie ist hinter uns.
Zack, die mit der Butter kriegt was ab. Jau! Schön, ha! Der Stock ist elastisch mit einem Stahlkern.
Zack, statt der Anderen kriege ich was ab.
„Au“, sage ich.
„Entschuldigung“, verkündet das Mädel mit ihrem seligen Lächeln in meine Richtung. „Entschuldigen Sie, Entschuldigung.“
Dann weicht sie geschmeidig einer Reklametafel aus. Die Kante der Rolltreppe passiert sie ebenfalls mit absoluter Sicherheit.
Ich starre ihr hinterher, verblüfft, wie gut ich sie in diesem Moment verstehe.
II. REGELN DES
LÄCHERLICHEN
BENEHMENS
1 DIE AKAZIENKRONEN SIND IN EINEN FLUORES ZIERENDEN REGENBOGEN EINGEHÜLLT. Schlaftrunkene Fußgänger tauchen aus dem Amphitheater der Schatten und verlieren sich wieder. Ab und zu donnert eine Straßenbahn vorbei. Darin hängen Riesenvampire an Stangen und dösen. Anderswo sitzen gespenstische, farblose Affen, popeln in der Nase und atmen gegen die Scheiben.
Es ist neblig, sieben Uhr am Morgen. Ich steige in die Elf und gehe im Wagen nach hinten durch, lehne mich mit dem Rücken gegen eine waagerechte Stange. Unter ausgiebigem Scheuern der Bremsen gleitet die Straßenbahn hinab ins Tal von Nusle. Wir zuckeln durch eine Gegend erwachender Läden, Markthallen, Pfandleihen, Fitness-Center und anderer Gaunerbuden. Wir schlängeln uns unterhalb vom BohdalecHügel entlang, rasen vorbei am Kessel des mit ausgebrannten Eisenbahnwaggons vollgestellten Betriebsbahnhofs.
Endstation. Spořilov. Das Stadtviertel verwahrloster Grünanlagen und altersgrauer Fünfjahrplanwohnblocks. An einem von ihnen drücke ich mit dem Knöchel des Mittelfingers eine Klingel mit verblichenem Namensschild. Nach langer Zeit materialisiert sich in der Milchglasscheibe der Eingangstür der Schatten meines Vaters.
„Na, komm rein“, sagt er.
Ich steige hinter ihm die Treppe hoch. In seiner Geruchsspur ist etwas Neues. In den letzten Jahren übertreibt er es nicht mit dem Waschen, wofür ich Verständnis habe. Ich steige auch nur noch in die Badewanne, wenn ich unter Leute gehen will. Und auf einmal riecht es nach Kölnisch Wasser, nach Deo, nach irgendwas Chemischem.
Der Teppich zusammengeschoben, der Fern seher verklebt, darauf ein mit kleinen Münzen gefüllter beigefarbener Damenschuh. Halden aus Bankanweisungen, Zeitungsausschnitten, Ordnern, Taschenbüchern, Enzyklopädien, Vinylscheiben, Pappschachteln, Arzneiverpackungen und Apfelgriebsen. An sämtlichen senkrechten Flächen kleben Plakate seiner Lieblingssängerin. Aus dem nicht ganz geschlossenen Schrank heraus leuchtet ein buntes Gewirr an Hosenträgern. Darunter Paradestücke, silber-grün changierende, rot-schwarz gestreifte, blaue mit gelben
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