Regeln des lächerlichen Benehmens (German Edition)
anderen Anleitungen zum Leben redlich studiert und aufgesogen hat. Papa hat außerdem nie irgendwelche Aphorismen gelesen, den interessieren andere Dinge, Saugwürmer, Fadenwürmer, Spulwürmer, Kalmare, der Vogelzug, die Geschichte der Eroberung des Luftraums, Supersaiten, Pulsare, Quasare, zerfledderte Krimis und das alkoholgetränkte Gefasel von E. A. Poe. Mit achtzig verschlingt er seine Bücher, als wäre das sein neuer Job. Zu alldem fährt er regelmäßig mit der Straßenbahn von Spořilov bis nach Strašnice, um seiner Enkeltochter Míša den Opa zu machen. Weil ich mich bei ihnen nicht blicken lasse. Ich sitze zu Hause und schwitze Gift und Galle in mein Notebook.
Heute aber mach ich den Laden dicht, zieh mir eine Hose an, knipse das Licht aus und gehe raus. Einfach so, ein Rundgang durchs Viertel. Auf dem Jiřího-z-Poděbrad-Platz linse ich ins Fenster eines Spielautomatencafés, Bedienung oben ohne, seltsam. Möglicherweise ein fernes Echo mittelalterlicher Raserei, Karneval und Saturnalien. Bloß haben daran Honoratioren und Sklaven teilgenommen, das hier sind dagegen nur Sklaven. Und wie viele. Die Nacken glänzen, die nackte Nina serviert Steaks.
Und weiter.
ARCHA CITY REALITY
– diesen Schriftzug finde ich gut. Er entfacht die Fantasie, um sie gleich wieder abzuwürgen.
Und weiter. Vor der Plečnik-Kirche kommt ein großer Hund auf mich zugerannt und leckt mir abwechselnd beide Hände. Er scheint ein blaues und ein braunes Auge zu haben, aber bei diesem Licht ist das nicht ganz sicher.
„Willst du Banane oder Schnuller?“, brüllt eine rauchige Altstimme aus einem Fenster. „Banane haben wir nicht, also Schnuller.“
Und weiter. Im Gehen tippe ich ein paar Nummern ein. Alle sprechen gerade. Sie vertrauen sich Geheimnisse an, verreißen neue tschechische Filme, verabreden Treffen, Besuche, Ausflüge. Und mich ruft keiner an, verdammt.
Im Gartenrestaurant im Rieger-Park trinke ich ein Pils. Die Luft ist mit Qualm gesättigt, die junge Generation kabbelt sich, Hunde machen vor lauter Glück Luftsprünge und schlagen Purzelbäume.
In meiner Hosentasche schnurrt das Handy, sieh da.
„Hallo, Vlád’a hier“, poltert es aus dem Lautsprecher. „Ich hab gesehen, dass du angerufen hast, war was?“
„Ich wollte nur ahoi sagen. Ich sitz in der Milchbar und hier ist ziemlich Ruhe. Kommst’e auf ’n Bier vorbei?“
„Komme.“
Kurze Zeit später quetscht sich ein Herr um die fünfzig mit Fleecejacke zwischen den Sträuchern durch, lacht wie ein Vampir und begrüßt mich mit einem Dinosaurierhändedruck.
„Viridiana im DVD-Player und dazu Bohnen aus der Dose, mit Meerrettichpaste drin, ich hab lange nichts Besseres erlebt“, erzählt er. „Ich sehe, du hast dir neue Schuhe gekauft.“
„Das sind die alten“, sage ich, „ich hab sie nur geputzt.“
3 ICH RUFE FRAU DR. JUNKIÁNOVÁ AN. Sie spricht mit flacher Stimme und überstürzt, jeden Satz scheint sie mit einem Schluchzen zu beenden. Ich verstehe sie kaum. Der Eingriff war zeitintensiv, alles ist normal verlaufen, es sollte jetzt langsam besser werden, wir müssen Geduld haben. Offensichtlich ist sie gezwungen diese Zauberformel zweimal pro Stunde herunterzubeten. In mattem Tonfall schlägt sie mir vor, ihn besuchen zu kommen, falls ich das möchte.
Im Vorraum der Intensivstation versuche ich mich in den Kittel zu zwängen, die Füße schiebe ich in überdimensionierte Gummischiffe. Im Zimmer eine Reihe Betten, auf jedem so ein armes Schwein, halb mit einem Laken zugedeckt. Meinen Vater sehe ich nicht. Der da ist es nicht, das dort ist vermutlich eine Frau, unter dem Fenster eine aufgequollene bleiche Larve, also noch einmal. Mir gegenüber ein violetter Kerl wie ein Baum, neben ihm ein zer säbelter Junge, dahinter eine breitgequetschte Maus. Das da soll er sein? Der blau angelaufene Koloss direkt vor mir?
Ich gehe näher und sehe, dass es stimmt. Der vor zwei Wochen noch dezent schäbige, schlanke Haudegen liegt jetzt hier und ist zweimal so groß, wie er jemals gewesen ist. Aus Nase und Mund kommt ihm eine Drainage. In den Adern Nadeln, auf dem nackten Brustkorb Blutergüsse, Sonden, Jodflecken. Sein Schnurrbart ist weg. Seinem Mund entspringt ein ununterbrochenes Röcheln aus dem Brustkorb. Die Augen sind mit einer braunen Membran überzogen. Er blickt mich an.
Ich beuge mich zu dem keuchenden Mund hinab. Höre ein entferntes Rasseln, ein Pfeifen, auch ein Klopfen ist zu vernehmen. Wie wenn die Axt des Holzfällers im
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