Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
zumindest am Anfang erscheinen, er versinkt in dem Sofa, das Reden schafft einen Raum oder eine ungewisse, sich andauernd verwandelnde durchs Zimmer gleitende Form. Er sieht halb menschliche halb mathematische Gestalten vor sich, bewegt sich nicht, schaut nicht auf die Frau, die bei ihm sitzt, berührt sie nicht. Keine Hand geht zum Lichtschalter, das Licht wird sanft rötlich, dann zitternd wie in einem ausgehöhlten Silberwürfel, scharf und grau, als wäre dies nicht ein Zimmer, sondern ein fernes Gebirge, dann verschwindet es beinahe ganz. Und er verliert die Gewalt über sich selbst und fragt sich, ob diese Frau ihr Denken unter Kontrolle hat; ob sie in derselben Welt lebt wie andere Menschen, aber lebst denn du in derselben Welt wie andere Menschen. Sie sollte doch erschüttert sein, durch diese Fotos, nicht er. Hat er sich einmal gewünscht, fragt ihre Stimme, einen ganz bestimmten einzelnen Moment seines Lebens zurückzuholen, er gibt keine Antwort (sie versteht es als Nein), es muss ein Moment sein, sagt ihre Stimme, in dem es nicht nur um ihn, nicht um sie, um kein Ich oder Du geht, sondern in dem plötzlich eine Verbindung da ist. Oder einen Moment seines Lebens auszulöschen, sagt sie, das ist nämlich das gleiche, einen Moment unerträglicher Peinlichkeit oder auch Verzweiflung, er gibt keine Antwort (sie versteht es als Ja). Das ist das gleiche, sagt sie, und dieses Auslöschen geht nicht von selbst, wie man immer glauben möchte, das Vergessen ist nicht leichter als das Erinnern. Sie wartet, und er beginnt zu zittern, er wollte tausend Fragen stellen, er kann keine Frage stellen, nur zittern. Warum lässt er das zu. Er sieht das Gesicht der Frau ganz nah an seinem, näher als es in Wirklichkeit ist, ohne jedes Begehren, das Licht, das sich ins Weiß ihrer Augen zurückgezogen hat; in die Bastion ihrer Augen.
Sie redet so, als wisse sie, dass ihre Sätze bei ihm gut aufgehoben sind, er fragt sich nicht, weshalb. Sie sagt, sie wolle glauben oder müsse jedenfalls darauf setzen, dass Tanzen wirklich heißen könne: die Regeln der Gesellschaft hinter sich lassen. Völlig anderen Regeln folgen. Das ist ja das Kommunistische für mich, lacht sie (wenn das ein Lachen ist: dieses Zerstörerische oder Wunderbare, das ihre Stimme zerbricht, wann hat er so ein Lachen zuletzt gehört), immer noch, diese Bereitschaft zur Idiotie, dieses Wissen, dass man manchmal, nämlich dann, wenn eine Verbindung da ist, in einem Moment eingeschlossen sein kann und sich um keinen Preis mehr um ein Außerhalb kümmern darf. Kommunistin sein müsste heißen, sich entschlossen auf etwas beziehen, das es nicht gibt, nie gegeben hat, niemals geben wird (das ist die einzige Politik).
Er sagt nichts, das Wort Kommunismus erinnert ihn an seine idiotische Jugend (nicht dass ihm sein Erwachsenenleben weniger idiotisch erschiene), während sein Körper sich zugleich an etwas anderes erinnert, an das Begehren oder an etwas, dessen Bestandteil das Begehren war, er sieht halb mathematische, halb menschliche Gestalten vor sich, im Silberwürfel, in der von Stimmen gefüllten Grabkammer dieses Zimmers, ungeheuer deutliche, ihm im wahrsten Sinn des Wortes einleuchtende Gestalten und Bewegungen; er denkt daran, wann diese Frau geboren ist und was alles sie gar nicht oder als Kind oder in irgendwelchen offiziellen Versionen im Nachhinein erfahren hat, er denkt, dass vielleicht jede Generation die Unschuld des Kommunismus neu entdecken muss, sie beschmutzen und daran fürchterlich scheitern (aber wozu wäre das gut; aber wäre es anders nicht noch schlimmer)(und ist es nicht längst anders, diese Frau ist bitteschön vierzig und nicht zwanzig). Er spricht den Gedankengang nicht aus, merkt, es sind Ideen von jemandem, der außerhalb des Lebens und außerhalb der Geschichte steht. Eine der Gestalten scheint seine Augenlider zu streifen, er hört sich atmen. Wenn du zuviel denkst, sagt die Frau, dann merkst du plötzlich, wie Gedanken, die du für richtig, und Gedanken, die du für falsch hältst, sich vermengen und nicht mehr voneinander unterscheiden lassen, und wie deine Gedanken sich am Ende auflösen. Bis nur mehr du selbst dableibst, du selbst mit deiner ganzen Verlogenheit. Man muss die glatte harmlose europäische Fresse auslöschen, sagt sie. Ankoku Butoh , das heißt Tanz der Finsternis . Die meisten Butohtänzer ziehen blödsinnige pseudojapanische Grimassen und schauen dadurch nur umso europäischer aus, wichtiger ist, das Licht von sich
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