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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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möglicherweise Wesen aus verschiedenen Zeiten Orte gemeinsam bewohnen können, ohne einander in die Quere zu kommen, ihre Gegenwarten liegen wie durchsichtige Folien übereinander. Es würde ihn nicht wundern, plötzlich eine Gesellschaft aus dem späten neunzehnten Jahrhundert vor der Haustür oder gleich mitten im Wohnzimmer auftauchen zu sehen, oder auch die Nachfolger, von denen er öfter schon geträumt hat, jene Wesen aus der nahen Zukunft, vor deren Blick alles zunichte wird. Obwohl sie ausschauen wie ganz gewöhnliche Menschen, manche davon sogar eine erschreckende Ähnlichkeit mit ihm selbst haben, so dass er ihnen die Hand schütteln und sie als Leerversionen von sich selbst begrüßen könnte, eine ganze Kompanie von Leerversionen von sich selbst. Er begrüßt sie und verabschiedet sich, um als Kind durch fremdgewordene Gegenden zu laufen, seine Kindheit kann sich immerzu wiederholen, auch wenn die Orte fremd werden, jeder Tag ist noch da.
    Von all dem erzählte er Pre nichts; nicht nur, weil die Heimlichkeit zu seinem Spiel gehörte, sondern auch, weil es Dinge waren, von denen man eigentlich nichts erzählen kann. Er hörte sie die Tür aufschließen, herumgehen, Kaffee kochen, telefonieren, die Tür hinter sich zuwerfen. Manchmal hörte er sie in ihrem Zimmer lachen, beim Telefonieren oder Skypen oder was immer sie tat; dann hörte er sie wieder aus dem Vorraum, dann aus dem Bad, Hände waschen oder duschen oder irgendetwas tun, das schmatzende Geräusche mit sich bringt, dann das Rascheln ihres Mantels, dann wieder das Zuwerfen der Tür. Er konnte es erschreckend finden oder genießen, dass die Dinge, die ihm wichtig wurden, Dinge waren, von denen man eigentlich niemandem erzählen kann; wie allein er also jetzt war. Bist du richtig allein, so bist du ausgeliefert, wenn auch nicht unbedingt klar ist, wem, warum und in welcher Weise. Aber es war nicht schwer, sich etwas auszumalen. Er konnte irgendeiner Instanz in die Quere gekommen sein, indem er die Filmdosen an sich genommen hatte; eine Instanz, die ihm auf der Spur war; nicht, dass er das glaubte, im Gegenteil, die Vorstellung schien ihm verrückt, aber warum sollte er sich nicht an verrückten Vorstellungen festhalten und sich langsam in ihren Bann begeben. Zu Beginn eine untergründige Angst vor Telefonanrufen entwickeln, zugleich andauernd auf ein Signal von seinem Telefon und seinem Handy lauern. Noch schlimmer als Anrufe der unbekannten Instanz wären vielleicht die Anrufe alter Bekannter, die ihn fragen wollten, wie es ihm gehe, oder einfach mit ihm plaudern, was ihm nur noch kurios erschiene.
    Telefon und Handy blieben still. An seinen Computer ging er nur der Form halber ab und zu am späten Vormittag oder frühen Nachmittag. Er schaute auf die Buchstaben, die zu den Sätzen dieser Sprache gehörten, die sich selbst schreibt; dieses Diskurses ; er sollte Texte beurteilen, die von Bildern handelten, Urteile, die nur Urteile sind, über Texte, die nur Texte sind, über Bilder, die nur Bilder sind, fällen; ihn langweilt jetzt vor allem, dass diese Bilder nur Bilder sind. Ein Bild müsste wirklich etwas zeigen : er genießt diesen fremden Gedanken, der völlig banal ist und gleichzeitig alles für ihn in Frage stellt, was er sich zu denken angewöhnt hat. Ein Bild, sagt er sich, muss eine neue Wirklichkeit erzeugen. Um das denken zu können, musste er die Filmdosen entwenden (an sich nehmen); er ist frei, das zu denken, seit es diese für ihn noch unsichtbaren Bilder mit ihm noch völlig unbekanntem Inhalt in seinem Besitz gibt: als würde ein Bild nur dann versprechen können wirklich etwas zu zeigen, solange es gar nichts zeigt, sondern nur das Versprechen da ist, das Versprechen und die Bedrohung. Das Wirkliche ist nur durch ein Spiel zu erreichen.
    Merkwürdigerweise hoffte er darauf, dass er keinerlei Rüstzeug mehr hätte, mit dem Wirklichen, mit wirklichen Bildern umzugehen. Er konnte versuchen, bei jeder Bewegung (aufstehen, sich hinsetzen, kauen, schlucken, tippen, löschen, durch die Wohnung laufen, die Tür absperren, aufsperren, in den Aufzug treten, einen Wagen durch den Supermarkt schieben, Zwiebeln schneiden, umrühren, die Hand mit der Gabel heben, das Glas an den Mund führen, Hände waschen, sich hinsetzen, sich hinlegen, die Augen schließen) einen Satz zu bilden, der die Bewegung, die Arbeit seiner Muskeln, jedes einzelnen seiner Muskeln begleitete; so als würde er sie fotografisch festhalten. Nicht bloß von außen,

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