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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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oder verbirgt sich.
    Es gibt in dem Haus, das es nicht mehr gibt, die Küche, den Vorraum, dein altes Zimmer, das Arbeitszimmer oder auch Bastelzimmer des Vaters, das Elternschlafzimmer oben im ersten Stock: diese Räume wirst du bis an dein Ende immer abgehen können, die Schränke, den Esszimmertisch, das Sofa immer wiedererkennen, den kleinen Raum unter der Treppe, der dir lange so geheimnisvoll erschien. Dein bisschen Bewusstsein muss all das halten, ohne dass irgendjemand dir dabei helfen würde. Ohne dass irgendjemand anderes sich erinnert. Und du wirst, bis an dein Ende, nicht wissen, ob sich nicht irgendwo andere Räume versteckt halten, die du noch nie betreten hast, und sich das Haus in unbekannte Dimensionen ausdehnt, zu fernen Gebirgen, Gärten, Meeren, verlassenen (doch nicht ganz verlassenen) alten Villen, ein feiner Nebel zieht durch die offenen Fenster, die Räume, die Zimmerfluchten. Du suchst die dunkelsten Ecken ab, immer wieder den kleinen Raum unter der Treppe, während deine Mutter mit verlorenem Blick Speisen kocht, die niemand je mehr essen wird, und dein sanfter Vater ewige Sonntagvormittage und Mittwochabende lang im Dorfwirtshaus mit Kameraden den verlorenen Krieg feiert (du hast ihn dafür gehasst und gleichzeitig geahnt, dass es den sanften Mann und den anderen, der mit Kameraden den verlorenen Krieg feiert, immer nebeneinander geben wird, auch wenn es sie beide längst nicht mehr gibt, du hast ihn gehasst, und dann ist es egal geworden).
    Im Aufwachen hat er für einen Moment die körperliche Vorstellung, ihm könnten ganz einfach die letzten Jahrzehnte von den Beinen geschabt werden; er würde als Kind weiterleben, aber in einer Welt ohne jede Festigkeit. Fragen und Antworten haben keinen Bezug mehr aufeinander, alles, was er sieht, kann im nächsten Moment verschwunden sein, die Möbel können davon fliegen, Fremde, die ihn bis ins Innerste kennen, plötzlich vor ihm auftauchen; eine unbekannte Macht lässt ihn aus dieser Welt nicht mehr entkommen. Längere Zeit zweifelte er an jedem seiner Atemzüge, er horchte in sich hinein: dort musste irgendetwas seine Bronchien, seine Lungen zu jedem neuen Atemzug überreden; er wurde den Traum nicht los und konnte zugleich nicht in ihn zurückfinden; er sehnte sich sogar nach der Angst. Du hast keinen Ort mehr in der Zeit. Andererseits wurde er das Gefühl nicht los, es stünde ihm eine Prüfung bevor, sobald er wieder richtig wach und sozusagen er selbst wäre (nur eben ohne Ort in der Zeit und Boden unter den Füßen), jeder Schritt und jeder Blick, jeder ausgesprochene, gehörte, gelesene Satz konnte Teil einer Prüfung sein.
    Nun ja, er atmete noch, das Sonnenlicht drang durch die Jalousien ins Schlafzimmer und zeichnete ein flackerndes Muster auf die Bettdecke und den Boden; er konnte nicht daran zweifeln, dass er am Leben war, am Leben und er selbst war. Dieser Mann mit einem Namen und einem ihm selbst unglaubwürdigen Alter; und einem lächerlichen Doktortitel, der auf die langwierige Vortäuschung eines Studiums und auf eine Doktorarbeit gefolgt war, die ihm dennoch (weil mit wirklichen Wörtern geschrieben und unter einem festen Einband in drei Bibliotheken aufbewahrt) glaubwürdiger schien als sein sonstiges Dahinleben.
    Sobald er richtig wach und sozusagen er selbst war, wusste er, dass ihm keine Prüfung bevorstand. Er spielte nur ein Spiel, erste Etappe war die Heimlichkeit; das heißt, er hatte das Spiel schon selbst eröffnet, bevor er noch auf die Filmdosen gestoßen war, mit seinen kleinen Ausflügen in die Stadt; den Expeditionen in eine verlorene Außenwelt. Er merkte nach langer Zeit wieder, wie viele Leben in einem einzigen Tag, der doch wie nichts vergehen konnte, Platz hatten; es genügte, es zu wissen, er brauchte es nicht gleich auszunützen; und seit er die Filme abgegeben hatte, gab es auch wenig Gründe für ihn, aus dem Haus zu gehen. Stattdessen verbrachte er seine Zeit mit dem Kochen von ausgeklügelten Abendessen, die er, weil Pre zu spät nach Hause kam, großteils alleine zu verschlingen hatte (manchmal tat er so, als wären die einzelnen Ingredienzien die Elemente einer zu entschlüsselnden Botschaft oder Figuren einer Romanhandlung), und vom späteren Nachmittag an mit Trinken: was er in seinen Körper schlang, war von einer seltsamen Beständigkeit und gab seinem Körper Bestand, er träumte in der letzten oder vorletzten Nacht vor dem Ende der Frist sogar und, wie ihm schien, stundenlang, vom Essen und vom

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