Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Steuer hinter dem Demonstrationszug durch, was dürfen wir denn schon tun, hört sie ihn dem Autofahrer zurufen, sie ballt in der Jackentasche die Fäuste zusammen und möchte mit dem Kopf gegen eine Mauer rennen. Die ganze Euphorie sackt in sich zusammen, kann jeden Moment in sich zusammensacken. Sie wünscht sich eine Waffe und weiß, dass sie keine Vorstellung davon hat, was sie damit tun würde.
Fast immer ist ihr bewusst, dass es die parallele Wirklichkeit gibt, die sie genau so sehr betrifft und in der sie genau so wenig eine Rolle spielt: zu jedem Moment gibt es einen gleichzeitigen Moment, den ihre Schwester erlebt, irgendwo in dieser Stadt oder schon wer weiß wo sonst in der Welt: sie wünscht sich einen Mechanismus, mit dem sie zwischen diesen Wirklichkeiten hin- und herwechseln könnte; dem Öffentlichen und dem Privaten, der für sie allein seltsam leeren anwesenden Wirklichkeit und der fast alles versprechenden abwesenden Wirklichkeit; fast alles, das heißt jetzt für sie, das größte Glück ebenso wie das größte Entsetzen. Immer ist ihr vorgekommen, ihre Schwester sei wirklicher als sie: sie sähe deutlicher, spürte intensiver, bewohnte ganz anders als sie mit ihrem Körper die Welt. Noch ihr Fortsein ist wirklicher als das Herumleben der anderen Idioten. Wenn du durch die Straßen läufst, kannst du die Hausmauern, die Straßenbahnstationen, die Ladenschilder und Fassadenfiguren nach Spuren oder eher noch Abdrücken von Monas Blicken (vielleicht war sie gerade eben erst da, vielleicht hast du sie um ein Haar verfehlt) absuchen, du lässt die Finger in kleinen Nischen in den Mauern ruhen und versuchst den Stein und den Staub zu spüren, wie Mona den Stein und den Staub spüren würde. Du bleibst allein hinter den Demonstranten zurück, keiner wird sich nach dir umdrehen, die Stadt schließt sich um dich, alt und unveränderbar; als wärst du allein und nichts hätte mehr eine Bedeutung. Manchmal scheint dir, du hättest deine Wohnung nicht verlassen und deine Wohnung sei auf keinem Plan der Welt mehr verzeichnet. Deine Bewegungen sind nur kleine zufällige Züge, du kannst keinen Punkt auf dem Stadtplan, der Weltkarte besetzen, hast keine Schwere. Es gibt eine spezielle Art von Schwere, die nichts als Grazie ist; es gibt eine Grazie, die Schwere in Leichtigkeit verwandelt (und natürlich denkst du an Mona: als wäre diese Frau, die deine Schwester ist, die einzige, die letzte, die überhaupt die Füße auf dem Boden halten, in Verbindung mit dem Boden bringen kann, oder eher noch die einzige und letzte, die den Boden unter ihren Füßen, unter ihrem Körper halten kann: so als wäre ihr Körper, dieser eine Körper, wo auch immer er sein mag, daheim: an einem Punkt auf der Erde, an einem Punkt in der Zeit). Du bist so wie alle anderen linkisch und ungeschickt neben deiner kleinen Schwester, der unbegreiflichen Selbstverständlichkeit ihrer Bewegungen und Gesten; als hätte sie ein Spiel im Griff, dessen Regeln niemand sonst beherrscht; als würde sie nur im Inneren dieses Spiels existieren.
Jeden Morgen wachst du in der leeren Wohnung auf und beginnst einen Moment nach dem Aufwachen die Leere zu spüren; immer wenn du nach Hause kommst, vom Einkaufen oder von der Uni oder von einer Demo, sonst gehst du nirgendwo hin, immer wenn du die Tür aufschließt, glaubst du für einen Moment, Mona wäre zurückgekommen, in ihrem Zimmer wäre Licht, gleich würde sie lautlos erscheinen, sie würde nichts sagen und du würdest keine Frage stellen; irgendwann könntest du dann, rein in deiner Vorstellung, ihrem Weg folgen, würdest verstehen, wo sie in den letzten Wochen gewesen ist. Sie stellt sich vor, Mona würde in der Küche stehen, in ihrem langen weiten blauen T-Shirt, am späten Vormittag, wenn die Sonne durchs Küchenfenster scheint, und einen Apfel essen, in ihrer langsamen, unabweisbaren Art. Sie steht in der Küche und isst einen Apfel. Sie versucht, jeden Bissen so genau zu schmecken, jedes Abbeißen so genau an den Zähnen und am Zahnfleisch zu spüren, dass es jeder andere nachvollziehen kann. Dieses weiße, feste, saftige Fruchtfleisch, die Form, die ihre Zähne darin zurücklassen.
Die Woche zieht sich hin. Er verlässt selten die Wohnung, holt Weinflaschen aus dem Keller und mariniert Geflügelstückchen mit Ingwer und Koriander, sieht Pre auftauchen und verschwinden, als bewohne sie einen anderen Raum, eine parallele Welt, die sich zufällig über seine Wohnung gelegt hat; so wie
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