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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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sondern auch im Innern seines Körpers. Was ist der Ort der neuen Wirklichkeit. Für jeden Toten sollte es einen Film, eine Serie von Fotografien geben, die jede seiner Bewegungen, die Arbeit seiner Muskeln, jedes einzelnen seiner Muskeln festhält, von innen wie von außen. Er schließt die Augen und sieht im Wohnzimmer seinen toten Vater auf einem Sofa, das nicht da ist, sitzen und ihm zulächeln. Es macht nichts, dass du weiterlebst, liest er in diesem Lächeln. Und er ist voll von Entsetzen und hat keine Worte. Warum lächelst du so, sagte aus dem anderen Wohnzimmer, das sich in das Wohnzimmer geschoben hatte, Pres Stimme, schläfst du, mach doch die Augen auf. Nach einer Pause:
    – Bist du noch da?
    Muss er darauf antworten? Er beugte sich vor und griff nach dem Stiel seines Weinglases, schaute auf die Tischplatte: dunkles Glas, unter dem sich die Cover irgendwelcher Zeitschriften (Architektur, Kunst, Psychologie; Profil , Zeit und Falter ) abzeichneten, Zeitschriften, die im Postfach steckten, mittags hinauf in die Wohnung geholt wurden und dann hier auf der Ablage unter der Tischplatte landeten. Es kann Versuche geben, von einem Raum in den anderen zu steigen oder sich zumindest über die Grenzen hinweg auf die eine oder andere Art zu verständigen. Er dachte, dass er in diesem Moment etwas Vernichtendes sagen könnte, etwas, wonach nichts mehr weitergehen würde wie bisher; aber warum gerade in diesem Moment, seit langem schon könnte er immer wieder etwas Vernichtendes sagen, so wie Pre seit langem schon immer wieder etwas Vernichtendes sagen könnte, fast jede Wahrheit musste wie etwas Vernichtendes klingen. Dann stellte er sich vor, Pre in diesem Moment nach ganz langer Zeit wiederzusehen, so schön und unverwechselbar. Er hatte die freie Wahl, er konnte ebenso gut, wie er etwas Vernichtendes sagen konnte, einen dieser kleinen, die Spannung auflösenden Sätze sagen, die er früher wie von selbst hervorgebracht hatte, wenn es notwendig war, einen Satz, der einen neuen Raum öffnete, sie konnten beide so tun, als würden sie an neue Räume glauben (eine dritte Welt für sie beide, denkt er); jedenfalls könnte er zu ihr hingehen, ihr übers Haar streichen, sie im Nacken, hinter den Ohren streicheln, sie würde die Augen schließen, den Kopf zurücklegen, er denkt: ich krümme ganz leicht die Finger der rechten Hand, meine linke Hand ruht auf der Schulter Pres, wie lässt sich das Gefühl von Haaren unter den Fingerspitzen beschreiben, das leise Knistern, die weiche Form, zu der sich das Haar auf der Kopfhaut fügt, das Gefühl fremder Haut, die so vertraut ist wie die eigene, der zarte weiße Nacken, die Muskeln unter der zarten weißen Haut des Nackens.
    – Gehen wir schlafen, sagt die Stimme Pres mit ihrem ganz leichten, besänftigenden oberösterreichischen Akzent. Wenn nun sie ihm über die Stirn striche, die Wangen, den Nacken, den Hals, dann unter seinem Hemd die Brust, wäre es, als würde sie einen Tisch anfassen oder eine Mauer. Höchstens erwartete er ein Knistern, wie von trockenem Laub.
    Habe ich Familie, sagt ihr der Mann, der ihr ein Bier bezahlt und irgendeinen gefüllten Teigfladen, nach dessen Namen sie nicht fragt, kleine Tochter, willst du sehen Fotos, sie nickt, der treuherzige Blick dieses Mannes ist rührend und geht ihr auf die Nerven, sie schaut auf das Foto eines kleinen Mädchens, das aussieht wie alle kleinen Mädchen, unter der Plastikfolie in seiner Brieftasche, und nickt freundlich, dieser Preis ist genau so hoch wie irgendein anderer. Interessanter ist die fettige Plastikfolie, der breite braune Zeigefinger des Mannes mit dem kurz und unregelmäßig geschnittenen Nagel, das Schlüsselbein, das aus seinem Hemdkragen hervorschaut, das Muttermal neben seiner Nase, aus dem ein Haar wächst. Er bemüht sich regelmäßig zu atmen, so zu tun, als würde er ihren Geruch nicht wahrnehmen. Drüben an Tisch, sagt er, alles meine Freunde. Nicht hast du Freunde, ist keine Leben. Fliegst du wie Luftballon. Du nicht willst sein bei deine Freunde, du kalt. Ich kalt, sie nickt, dann lacht sie. Er schüttelt den Kopf. Sie legt ihre Finger auf seine Hand, er zuckt zurück; einer von den Freunden am Tisch grinst zu ihnen herüber, während er eine Handvoll Spielkarten einsammelt (das Bild seiner blitzenden Zähne im offenen Mund bleibt ihr in dieser Nacht in Erinnerung). Über den Tischen steht eine Rauchwolke wie ein immer dichter werdender Nebel. Von draußen ist Lärm zu hören, ein Trommeln

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