Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
nachzuzählen, tschüs, sagte die Kassiererin, auf Wiedersehen, sagte er (weißt du, ich bin schon ein bisschen alt). Ein kleiner grauhaariger Mann in einer um seine Beine schlabbernden zu großen Hose mit strengen Bügelfalten steht neben dem dicklichen in unförmige Kleider gehüllten Mädchen; wenn sie dich jetzt anschaut, kannst du unverbindlich lächeln, ein solches Lächeln hast du einmal, als du erwachsen wurdest, erlernt und dich von ihm durchs Leben tragen lassen. Warum aber spürt er einen Hauch von Eifersucht. In seiner Jackentasche, in der vor Wochen die Filmdosen gesteckt hatten, steckten jetzt die Papiertäschchen mit den entwickelten Fotos, Maier ohne Vornamen, Westbahnstraße, Kundennummer, FD -Nummer, Auftragsnummer, all das wirst du mit dem Drogeriemarkt und dem Einkaufszentrum gleich für immer hinter dir lassen können. Er schaute sich kaum um, dachte nichts, sprach nicht mit sich selbst, weder in seinem Kopf noch laut vor sich hin, schob sich an Menschen mit Einkaufstaschen und bunten Sackerln vorbei die Rolltreppe hinab, den Weg zurück zur U-Bahn fände er schon blind, so wie er all seine alltäglichen Wege blind finden konnte. Meister, sagt eine Stimme vor der Glastür, entschuldige, Meister, kennst du mich nicht, Herr Doktor, du? Du erkennst den Mann nicht wieder, den du zu deiner Überraschung gleich auf ein Bier einladen wirst, der Vorname, den er dir nennt, sagt dir nichts. Ein Securitymann näherte sich mit schnellen Schritten und drohender Miene; einem Blick voller Selbstgewissheit und Verachtung; um dich zu verteidigen, denkst du; wahrscheinlich ist es ein Impuls von früher, ein Impuls aus einer anderen Zeit, von Ideen von Gerechtigkeit, Außenseitertum, Würde und so weiter, der dich dazu bringt, den Mann, den du gerade noch loswerden wolltest, freundlich anzulächeln (welche Kälte, welche Unsicherheit stecken hinter dem freundlichen Lächeln) und ihn, möglichst flüchtig, am Arm zu nehmen, gehen wir auf ein Bier, der Securitymann mit seiner schwarzen Weste auf den elend breiten Schultern bleibt stehen. Du steckst die Hände tief in die Jackentaschen und gehst, mit dem Gefühl, ein Gefangener zu sein, neben dem nach Zigaretten, Schweiß und Erde riechenden Mann her ins Freie, das heißt, durch die selbstöffnende Glastür. Du hast nur Ideen, an die du nicht glaubst, Impulse aus einer anderen Zeit. Kann man existieren, denkst du, ohne eine spezifische Dummheit, ohne einen vollkommen blinden Fleck in seinem Denken, der alles entwertet, was man tut und denkt? Kann man in vollkommener Leere existieren? Kann man existieren, ohne mit jemand anderem ganz zusammen zu sein: ein einzelnes Wesen zwar, das aber ohne den anderen gar nicht zu denken ist und das selbst nicht denken kann, ohne im Kopf des anderen zu denken, so wie der andere nur in deinem Kopf denken kann? Aber warum fällt dir das gerade jetzt ein.
Sie geht nicht in Richtung Flex, dort ist heute sicher niemand, und wenn doch jemand dort ist, will sie ihn nicht sehen, jemanden, der sich für ihresgleichen hält. Wenn sie lang genug in die andere Richtung geht, kommt sie irgendwann aus der Stadt heraus. Links von ihr ist der U-Bahn-Schacht, rechts, hinter einer Böschung, auf der Bänkchen stehen, der Donaukanal, sie weiß nicht, wie weit dieser sogenannte Treppelweg führt, ob sie bis Kritzendorf gehen könnte, bis Klosterneuburg und wie auch immer die Städtchen dahinter heißen mögen, am Ende bis nach Linz oder Passau, einfach so, um des Gehens willen. Irgendwann, denkt sie, könnte sich die Nacht einfach um sie schließen, ihr Körper, der dunkle Auwald, das dunkle Wasser würden zu einer Einheit verschmelzen. Äste, die nach ihr greifen, ihre Arme, die wie Äste wären und sich in die Nacht streckten, ihr Gehen, das ein Fortgeschwemmtwerden gegen die Strömung wäre. Sie würde nur Schatten sehen und nur als ein Schatten sichtbar sein. Das Gehen wäre einer Bewegung im Schlaf gleich, einer Bewegung durch den eigenen Körper. Hinter dem Gitter links von ihr braust eine U-Bahn vorbei, sie sieht den hellerleuchteten leicht schwankenden Innenraum, ein paar aus dem Fenster schauende Fahrgäste, nackte Gesichter über Mänteln und Anoraks, in einem der nackten Gesichter eine Brille mit dunkler Fassung und weit offene Augen. Sie geht unter einer Brücke hindurch, Graffiti an der Mauer, ein schwarzes Vögelchen mit gelbem Schnabel und einer Pistole in den Krallen löst sich aus dem Ineinander von Farben. Gebt Jörgi Ritalin, nicht
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