Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Mascherl, den sie im Lauf des Abends verlieren wird, es hat etwas von Nacktheit an sich, diesen Sticker außerhalb der Demonstrationen zu tragen, jetzt, im Supermarkt, während sie ihren Wagen durch die Gänge schiebt, nicht viel einkauft, aber doch mehr als sie für sich selbst brauchen würde, sie kauft noch immer jedes Mal, wenn sie bei Billa ist, auch für Mona ein, mehr Bier als sie selbst trinkt, mehr Joghurt als sie selbst isst, grünen Tee, den nur Mona trinkt. Wie jeden Tag ruft ihre Mutter sie an, hast du noch nichts gehört? Sollte man nun nicht doch die Polizei – ? Nein, sagst du, man kann nicht die Polizei anrufen: und würdest du weiterreden, dann müsstest du versuchen, deine Schwester zu erklären, was falsch wäre, du müsstest versuchen, sie deiner Mutter zu erklären, was doppelt falsch wäre; beinahe so absurd und niederträchtig, wie es wäre, die Polizei anzurufen; selbst wenn es die einzige Möglichkeit wäre, Mona wiederzufinden, wäre es absurd und niederträchtig, also sagst du nur noch, du, ich muss jetzt aufhören, ich muss gleich gehen. Du gehst zur Kundgebung, nicht? Pass auf dich auf, pass auf, dass du in nichts reingerätst. Darf ich dir etwas sagen, was du nicht hören willst. Nein. Bitte lass es. Es tut ihr weh, einfach so aufzulegen, aber sie legt auf. Jede Handlung ist eine Zerstörung. Sie setzt sich neben dem Telefon aufs Sofa, es ist noch Zeit, sie könnte jemanden anrufen, sich verabreden, das wäre immer noch möglich; dass jemand sie anrufen wird, um sich mit ihr zu verabreden, glaubt sie nicht mehr. Sie hat keine Lust zu lesen oder irgendetwas anderes zu tun, sie wartet.
Auf dem Weg in die Innenstadt sieht sie Autos und Passanten, aber das Leben läuft nicht einfach weiter, die Stadt erlebt eine langsame Verwandlung. Die Autos sind spärlich, ebenso die Passanten, von denen sich jeder gleich in einen Demonstranten verwandeln kann. Überall in der Innenstadt finden schon kleine Kundgebungen statt, sie geht über den Stephansplatz und die Kärntner Straße, vor der Oper redet eine junge Komponistin in einer Mischung aus Empörung und Abgeklärtheit, die sie interessant findet (in einer Zeit, sagt sie, die Kunst und Künstler als nutzlos wahrnimmt, macht der Künstler das, was er muss, und spricht von dem, was nichts nützt), sie bleibt eine Zeit lang stehen, betrachtet die Gesichter der anderen Zuhörer (jeden von ihnen, denkt sie, kann sie schon irgendwo gesehen haben, keinen erkennt sie wieder), lässt sich immer mehr von der Rede ablenken, umlenken, hin zu sich selbst mit ihrem eigenen Kopf und Körper. Sie hat die Hand in der Jackentasche und spürt die Schlüssel, die sie gleich rhythmisch schwenken wird; sie spürt das Handy, das neben Kugelschreiber und Notizbuch die Brusttasche spannt, kann sich vorstellen und muss beinah erwarten, dass es gleich läuten wird, ein leises dumpfes Vibrieren, und jetzt, an diesem Tag und in diesem Moment, könnte dieser Anruf nur der eine Anruf sein, auf den sie die ganze Zeit wartet. Monas Stimme in ihrem Ohr, schwer zu verstehen, vor dem Hintergrundgetöse, aber mit einem Tonfall, als hätten sie sich gestern erst zuletzt gesehen und nicht vor mehr als zwei Wochen. Der Himmel ist grau, es beginnt leicht zu tröpfeln. Das Handy bleibt stumm, sie schaut ab und zu auf die Uhr. Wenn sie sich an die Euphorie des ersten Demotages erinnern kann, wird diese Euphorie in der Wiederholung nicht ganz die gleiche sein, so wie nichts in der Wiederholung ganz gleich bleiben kann, es muss mehr sein oder weniger (es ist unmöglich, das vorauszusehen, und auch im Nachhinein schwer zu entscheiden: weniger wird es sein, weil sie weiß, was fehlt und was an Enttäuschung bevorsteht; weiß, dass es keinen Ersatz gibt, weder in der Welt draußen einen Ersatz für das, was im eigenen Leben fehlt, noch im eigenen Leben einen Ersatz für das, was in der Welt draußen nicht zu erreichen ist; mehr wird es sein, weil die Euphorie da ist, obwohl sie weiß, was fehlt, und ahnen kann, dass auch hier die Enttäuschung bevorsteht; weil sie weiß, dass zwischen dem eigenen Leben und der Welt draußen kein Gegensatz besteht).
Du in deinen Turnschuhen, deiner Strumpfhose, deinen Jeans, deinem Slip, deinem Hemdchen, deinem T-Shirt, deinem Pullover, deinem Schal, deiner Kapuzenjacke mit dem Schlüssel in der Tasche, dem Notizbuch, dem Kugelschreiber, dem Handy in der Brusttasche, dem Sticker an der rechten Brustseite. Du mit deinem Gesicht, deinen Augen, die durch den
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