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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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uns , steht daneben. Ihre Schritte sind gleichmäßig; sie ist seit Stunden fast ununterbrochen auf den Beinen, doch gerade die Müdigkeit hält sie und treibt sie an, holt die Räume an sie heran: sie bewegt sich durch einen pulsierenden Horizont. Ihre Füße in den Turnschuhen stinken. Ab und zu überholen sie Jogger in Trainingsanzügen, ein paar junge Frauen, zwei oder drei Männer, ein einziger, dick eingemummter Radfahrer kommt ihr entgegen, Leute, die ihre Hunde spazierenführen. Manchmal wirft jemand einen Blick auf sie, der voller Geilheit sein könnte oder voller Verachtung, es kümmert sie nicht. Ein älterer Mann redet mit dem sehr langsam am Rand der Böschung entlangkriechenden Hund an seiner Leine; der Hund schaut ab und zu zweifelnd zu ihm auf. Es wird kälter; wenn sie friert, saugt sie den Atem ganz tief ein und sammelt ihn an einem Punkt ihres Körpers, den sie mit ihrem Atem entdeckt und zugleich erfindet; ein Netz von Punkten entsteht, eine Karte ihres Inneren: ein anderer Körper unterhalb des sichtbaren, den sie sich ertanzt: denn das Tanzen muss nichts Sichtbares sein, je müder sie wird und je mehr sie friert, desto tiefer gerät sie in den Tanz, der bald einem Verschieben von Wörtern in ihrem Inneren gleicht. Eine winzige Verzögerung oder eine Anspannung des Muskels, oder ein Ungleichgewicht zwischen ihren Schultern, ihren Hüftgelenken, die sich unmittelbar in Wörter übersetzen. Ein Sich-Wiegen, das Regionen in deinem Inneren hervorbringt, die dir früher unbekannt waren. Und etwas redet in deinem Inneren, in einer Sprache, die für niemanden ist und die nicht überdauert, die ganz in diesem Moment, in der Endlosigkeit dieses Moments aufgeht. Die alten rostbraunen Ziegelmauern zu ihrer Linken, mit den weiten zugemauerten Bögen, den aufgesprayten Farben, lassen sie an einen Wald denken; Stein, der im Lauf der Zeit lebendig wird, lebendig wie ein Wald, dicke Mauern, hinter denen sich Räume, Gänge öffnen, in denen Staub und Gerümpel eine dicke Schicht wie aus Laub und Reisig formen. Mit dem Wasser rechts von ihr, den Brücken und dann den mächtigen wie vom Himmel in diese kleine Landschaft hinabgesenkten Betonpfeilern und den Fahrbahnschleifen und -schlingen der Autobahn über ihrem Kopf fühlt sie sich wie in einem Innenraum.
    Junge Frau, sagt eine dünne Stimme hinter ihr, junge Frau, entschuldigen Sie. Sie dreht sich nicht um. Wahrscheinlich wäre der Mann verblüfft, würde sie sich umdrehen. Sie hört ein Jaulen, wie einen Klagelaut aus der Tiefe eines Körpers.
    Später scheint ihr der Tag wie eine Wiederholung des ersten Tags, die Großdemonstration, die so viel geordneter und so viel machtvoller erscheint, am Ende wie eine Wiederholung der ersten Demonstration, die Heimkehr wie eine Wiederholung der ersten Heimkehr, auch jetzt denkt sie, es ist etwas geschehen, auch jetzt denkt sie, Mona wird zu Hause sein, in ihrem Zimmer oder, irgendein Getränk vor sich, eine Zigarette in der Hand, mit angezogenen Knien am Küchentisch sitzend, nicht auf sie warten, weil sie nie auf jemanden wartet, ihr nicht entgegengehen, weil sie nie jemandem entgegengeht, aber sie ganz einfach anschauen, zu irgendwelchen Worten bereit sein, später einem nicht ganz höhnischen Lächeln, einer Art von stummem Einverständnis, wie es, meint sie, trotz allem und obwohl du bloß ihre Schwester bist, immer zwischen ihnen geherrscht hat, wie hätten sie sonst diese Wohnung teilen können, über Jahre hin. Es ist Samstag, noch vor dem Frühstück schaut sie in Monas Zimmer und unterdrückt das Bedürfnis, noch ein Foto zu machen, sozusagen ein Foto außerhalb der Reihe, aber das darf, scheint ihr, nicht sein, seit sieben Tagen geht sie jeden Tag ins Zimmer, in dem sich nichts verändert, nicht einmal eine Staubschicht scheint sich zu bilden, sieht die Kamera daliegen und rührt sie nicht an, dann trinkt sie in der Küche ihren Kaffee, blättert in der Zeitung: immer sieht sie den Punkt vor sich, an dem ihre Wut, ihre Euphorie aufbewahrt sind; den Punkt, wo sie sie erreichen, erneuern kann oder könnte, immer denkt sie, sie müsste einen Schritt tun, einen Sprung, um die Entfernung zu diesem Punkt zu überwinden, einen Sprung durch ein fremdes, bodenloses Medium. Sie liest von Konzertabsagen, Lou Reed, Henry Rollins wollen nicht mehr in diesem Land auftreten, ein Dirigent, der vom Widerstand überrascht ist, überlegt, seinen Boykott zurückzunehmen. An ihrer Jacke hat sie einen Sticker mit durchgestrichenem

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