Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Raum wandern und das Licht in sich aufsaugen, deinem warmen Mund, der die Luft in sich einsaugt, den Linsen, die auf deinen Pupillen haften und ihre Bewegungen mitmachen. Du mit dem Haar, das aus deiner Kopfhaut sprießt und sich zu dunklen Locken formt und das du manchmal wachsen zu spüren glaubst, als wäre es nicht dein eigenes; als würde es nicht zu deinem Körper gehören; so wie dir manchmal scheint, dein Körper würde nicht zu dir gehören, je deutlicher du ihn spürst, desto eher scheint es dir, er würde nicht oder kaum zu dir selbst gehören (aber was hieße das dann noch: du selbst).
Am Ring steckt sie plötzlich in einer dichten Masse, von den Museen her bringt eine Gruppe von Gewerkschaftern, vielleicht mit einigen Bussen in die Stadt gekommen, eine neue, stärkere Strömung in der Menge. Die Fahrbahnen sind voller Menschen, manche mit Fähnchen, Transparenten oder Luftballons, viele mit Stickern, so wie sie einen trägt; sie geht durchs Burgtor, in einem Tempo, das nicht mehr ihr eigenes zu sein hat, fortgeschwemmt, die Lichter gehen an, und der graue Himmel wird dunkler. Sie hat den Heldenplatz im Blick, und vor ihr ist, bis hin zu den Gebäuden der Hofburg, dem Kanzleramt am Ballhausplatz und den Zäunen vor dem Volksgarten kein Ende der Menschenmenge auszumachen, sie hat noch niemals so viele Menschen auf einem Fleck gesehen. Die Reden haben noch nicht begonnen, von der Bühne ist Musik zu hören. Sie geht durch die Menge, bleibt ab und zu stehen oder kommt, an einer Stelle, wo sich kein Weg zwischen den Körpern öffnet, zum Stillstand, nahe dem Reiterdenkmal glaubt sie schließlich ihren Platz gefunden zu haben, mit Blick auf die Bühne, es ist egal, wer neben ihr steht, ob sie von ihm oder ihr berührt wird, ob sie ihn oder sie berührt, fortschiebt, nach vorne, nach hinten, zur Seite geschoben wird, es ist nichts als eine Art sehr langsamer Tanz. Alle Bewegungen scheinen ihr gemessen, erwartungsvoll. Sie ist eine von zwei- oder dreihunderttausend diesen Platz besetzenden Menschen, diese Anwesenheit ist für den Moment bedeutungsvoller als alles, was von der Bühne gesagt werden kann: nur zu dem Zweck gesagt werden kann, in dieser Anwesenheit, in diesem Moment aufzugehen. Es gibt ja kein Gespräch, nur mehr Behauptungen; und Wörter sind schwach und offen für alle Verdrehungen und Lügen, Wörter sind nur Hüllen für die Gewalt (denkst du das jetzt oder später; morgen, wenn du die Politikerstellungnahmen liest, oder in den nächsten Wochen, wenn das Fernsehen und fast alle Zeitungen mit patriotischer Betroffenheitsrhetorik endgültig alles verdreht haben, was geschehen ist, und mit ihren Behauptungen, Verdrehungen und Lügen alles überrollt haben, so dass das Land es sich wieder gemütlich machen wird in seiner großen Unschuld und kleinen Gemeinheit. Aber was ist das noch für ein Denken, das die Wörter und die Vernunft aufgibt? Was ist von dir geblieben, wenn du die Wörter und die Vernunft aufgibst, was hält dich dann, an ihrer Stelle, nicht dieser Körper, der nicht zu dir gehört, nicht ein lange vergangener einzelner nicht mehr wiederholbarer Moment, was für andere Zusammenhänge entstehen?).
Sie schaut die Menschen um sich herum an, während die Sänger, Schriftsteller, Schauspieler und Politiker auf der Bühne ihre packenden, langweiligen, dummen, intelligenten Reden halten, eine kurzhaarige kleine Pensionistin steht mit leuchtenden Augen hinter ihr, jemand, der wie ein Lehrer ausschaut und ein kleines Kind auf der Schulter trägt, zu ihrer Linken, ab und zu trötet es aus seinem Pfeifchen, es gibt natürlich Studenten und Schüler, aber auch Arbeiter, die nicht nach Berufsfunktionären ausschauen, und vor allem viele undefinierbare, in jedem Laden und jedem Büro vorstellbare Leute, nicht der Querschnitt durch die Bevölkerung wie auf einem kitschigen Gemälde, sozialistischer Realismus, oder in einer amerikanischen Fernsehserie, denkt sie, abgesehen von den Gruppen mit Transparenten repräsentiert hier jeder nur sein zufälliges Selbst. So kann man gut auch niemand sein, in diesem Tanz, diesem harmonischen Durcheinander. Sie sieht Kameras, Mikrophone, Reporter schieben sich durch die Menge und suchen sich ab und zu jemanden heraus, um ihn zu befragen. Sie kennt solche Interviewschnipsel aus den Fernsehnachrichten; sie liest die Abkürzungen auf den Kameragehäusen und den Mikrophonen: RTE , RTBF , was würde sie sagen, wenn ihr einer dieser belgischen oder spanischen
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