Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Bett, das Lesezeichen steckt immer noch auf Seite 20. Die Tür zu Monas Zimmer ist verschlossen; wie oft gehst du an diesem Abend daran vorbei; irgendwann, die Zahnbürste im Mund, öffnest du die Tür und machst das Licht an. Zuerst fällt dir nichts auf, es ist Monas verlassenes Zimmer; das Zimmer, von dem du zwölf Fotografien gemacht hast, die unentwickelt im Innern der Kamera auf irgendeinen zukünftigen Blick warten. Die Kamera hast du auf dem Bett liegengelassen. An der Wand das Foto einer Schraube vor weißem Hintergrund, einer Schraube, die, von Rostspuren angenagt, wie ein Körperteil wirkt. Dann fällt dir auf, dass die Schranktür einen Spalt offen steht, dein Herz klopft heftiger, du gehst zum Schrank. Du merkst gleich, dass Kleider fehlen: Unterwäsche, ein oder zwei Hosen, Pullover.
Es ist unsinnig, weil du in der ganzen Wohnung gewesen bist und niemanden gesehen hast, aber was weiß man, bei deiner Schwester, für einen Moment glaubst du, für einige Sekunden hoffst du, Mona wäre noch hier; oder sie würde nur kurz wieder gegangen sein und gleich noch einmal auftauchen. Sie war jedenfalls hier. Warum sollte sie nicht einfach wieder auftauchen, warum soll eine erwachsene Frau nicht für zwei Wochen oder länger einfach mal verschwinden, ohne etwas von sich hören zu lassen, und dann genauso einfach wieder auftauchen. Warum ist sie wieder gegangen. Es ist nicht irgendeine erwachsene Frau, es ist deine Schwester; es ist Mona, für die jeder Moment endgültig ist; jeder ihrer Schritte, jede ihrer Aktionen ist konzentriert, gespannt, bodenlos; und dass sie jetzt Wäsche mitgenommen hat, als wäre sie auf einen Plan verfallen, eine neue und besondere Übung –
Dich erfasst eine ganz neue Angst; eine neue Angst, die aber schon lange in dir gelauert und nur auf ihren Moment gewartet hat. Die seit langem in dir gelauert hat, seit viereinhalb Jahren, zumindest seit viereinhalb Jahren, seit Mona immer mehr zu dieser beinah Fremden geworden ist; seit ihr in Erinnerung an eine Katastrophe und in Erwartung einer Katastrophe lebt.
Er war so diszipliniert zu warten, bis er wieder zu Hause wäre, außerdem war die Enttäuschung fast sicher, sobald er das erste Kuvert erst aufgerissen hätte: irgendwelche Urlaubsfotos würden ihn erwarten oder triste Privatpornoaufnahmen, wie sie ihm ab und zu im Internet begegnet waren, als ihm dieses Zeug noch neu genug erschienen war, um sich dafür zu interessieren. Trotzdem wird die U-Bahnfahrt ihm lang; er sieht niemand bestimmten, nur zu viele Leute, sogenannte Fahrgäste, auf dem stumpfsinnigen Heimweg von ihrer stumpfsinnigen Arbeit; er versucht das betrunkene Grinsen zu unterdrücken, das sich in seine Gesichtszüge schleichen will; von der Rossauer Lände aus schaut er zum Himmel, den dunklen Gebirgen der Wolken hoch. Er hoffte, Pre würde nicht zu Hause sein. Pre war nicht zu Hause; er schlug die Tür hinter sich zu und sperrte ab; die Räume sind hell, als wäre andauernd Frühling, für wen diese Kulisse, man kann über den Parkettboden gehen fast ohne Geräusch, die Bücher warten in den Regalen, seine Papiere auf dem Schreibtisch neben dem Laptop, auf wen denn, lass sie warten, gerne für immer. Er nahm die Kuverts aus der Jackentasche, bevor er die Jacke auszog und an den Kleiderbügel hängte, ging ins Wohnzimmer, setzte sich aufs Sofa, riss die Verklebung auf. Mit der Enttäuschung, sagte eine düstere Stimme in seinem Innern, würde seine ganze Existenz zerbrechen; nun, soll sie doch, denkst du fröhlich.
Die ersten beiden Bilder zeigen einen Grabstein, das nächste einen blumengeschmückten Sarg, er blättert die Fotoreihe durch: Aufnahmen eines leeren Zimmers folgen, des immer gleichen Zimmers auf sehr vielen Bildern, dann wechselt das Licht, Menschen tauchen auf, Wärme, so scheint dir, lichtdurchflutete Räume, es muss Pflanzen geben, Wasser, lachende Gesichter, aber kein Lachen für die Kamera, in die Kamera, sondern ein Lachen aus dem Leben heraus, ein zufällig aus einem endlosen Leben (wo, irgendwo dort) herausgeschnittenes Lachen, ein Mädchen, oder zwei, oder mehrere, er kann es nicht gleich sagen. Eigentlich lachen sie gar nicht. Auf den ersten Bildern sind sie junge Frauen, auf den letzten beinah noch Kinder, dreizehn oder fünfzehn Jahre alt. Er schaut sich die Fotos genauer an, liest die Inschrift auf dem Grabstein über Blumentrögen und Rasenbett: Jonas Stanek, 1944-1995, darunter: Monica Stanek 1979-2000. Es heißt 1979, nicht, wie er bei
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