Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
hör auf zu zittern. Sie kniet auf dem Badezimmerboden, auf einem flauschig weichen Teppich mit langen lila Wollfransen, und legt die Wäschestücke auseinander: Eine zerknitterte und zerrissene Bluse voller Haare, eine speckige Strumpfhose, ein Höschen, das (bist du dir sicher) nach Mona riecht, ein erdverkrusteter Pullover und ein Hemd, die sie nicht kennt. Ein Geruch nach Schweiß und Erde liegt in der Luft, ein Geruch nach Mona, nach Schweiß und nach Erde. Sie kniet da, auf dem weichen Teppich mit den langen lila Wollfransen, der über den kalten Badezimmerkacheln liegt, und versucht zu denken, lehnt sich zurück, den Rücken am Rand der Badewanne, dann den Hinterkopf, als sie sich hinunterrutschen lässt.
Es ist zu viel. Ein Loch tut sich in dir auf, eine Leere, die dich als Ganzes ersetzen kann, die Angst kann dich jetzt als Ganzes ersetzen. Sie versucht zu denken, versucht, eine Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, als würde aus dieser Ordnung notwendigerweise wieder etwas wie Hoffnung folgen. Du hast Fotografien, die du noch nicht anschauen kannst, du hast Telefonnummern, die du wieder, immer wieder, unablässig, und sicherlich ganz sinnloserweise anrufen könntest, aber nicht mehr anrufen willst, du hast jetzt diese Wäschestücke, Monas Geruch, die anderen Gerüche an diesen Wäschestücken, den Geruch, der langsam das Badezimmer besetzt, stark genug ist, die anderen Räume der Wohnung zu besetzen. Sie bewegt sich nicht; eine Scheu hindert sie daran, die Kleidungsstücke einfach in die Waschmaschine zurückzutun, so dass diese Gerüche eingesperrt und dann gleich, sobald sie das Programm laufen ließe, zerstört würden: als wären es wichtige Hinweise; die einzigen verbliebenen Hinweise, stärker als alles, was sie von irgendwelchen Zeugen – wenn es Zeugen geben sollte und wenn es ein Ereignis oder Ereignisse geben sollte, die zu bezeugen sind – in Erfahrung bringen könnte. Schließ die Augen, als könntest du warten, dass die Gerüche Bilder hervorbringen und die Bilder zur Wirklichkeit werden. Die Scheu hindert sie daran, die Kleidungsstücke überhaupt anzufassen, mit ihren Rissen und Schmutzflecken. Beweg dich nicht, beweg dich nicht mehr. Beweg dich ganz leicht: so dass du jeden Muskel einzeln spürst, mit seiner endlosen Schwere.
Sie stupst, Stunden später, mitten in der Nacht, auf dem Weg zurück vom Klo, beinah zufällig die Trommel der Waschmaschine an, etwas scheppert metallisch: es sind Schlüssel, es ist ein Schlüsselbund, ein Schlüsselbund ohne Anhänger, Monas Schlüsselbund. Das Licht im Badezimmer scheint ihr besonders grell.
Aber das ist doch ein Spiel: es gibt keinen Zufall, er hat seine Rolle gefunden, nein, nicht seine, irgendeine Rolle, eine Position. Er steht am Start, sein Päckchen Karten in der Hand, und sieht vorerst zwei Möglichkeiten: entweder kann er in die Mayergasse fahren, am besten Tag für Tag, zu unterschiedlichen Tageszeiten; Leuten Fragen stellen; das Bordell besuchen; Nächte in einem Hauseingang verbringen, in einer Verkleidung, sich im Ein-Stern-Hotel einmieten, unter falschem Namen, Maier, Meier, Meyer – irgendetwas dergleichen – und auf einen Zug der Gegenseite warten; es scheint ihm aber, von seiner Seite wie von der Gegenseite (ist es denn eine Gegenseite) her, unwahrscheinlich, zuviel an Unwahrscheinlichkeit, dass sich daraus etwas ergeben würde; in der Mayergasse ist nichts, nur ein Loch in einer Hausmauer, das zwei Menschen im Abstand von ein paar Stunden oder Tagen aufgefallen ist. Gab es denn sonst irgendetwas Auffälliges in der Mayergasse, in der Praterstraße, am Praterstern oder wo auch immer er sonst noch an diesem Tag war, er erinnert sich an nichts. Oder, das ist in jedem Fall der einfachere erste Zug, er sucht im Netz nach den Namen; nach irgendeinem anderen Wissen, das zu den Bildern hinzutritt, einem Wissen, das aus dem Unbestimmten kommt, von irgendeinem Ort her, aus irgendeiner Zeit, nur um hier und jetzt aufgerufen zu werden und auf seinem Monitor zu erscheinen; Wörter und vielleicht auch wiederum Bilder, gleich welche, Namen, Daten, dann formt sich eine Konstellation, in die er sich (seine Rolle) hineinfügt. Vielleicht ist das nicht einmal ein Zug, das ist beinahe ein Nichtstun und passt zu ihm.
Vielleicht braucht er gar nicht mehr aus dem Haus zu gehen, kann warten, bis es Abend wird, Nacht, als ob er allein wäre, es ist still in der Wohnung, er ist allein; wartet, bevor er den Computer einschaltet. Er schaut sich die
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