Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
das Licht immer durchscheinender, das kann aus ihren Schritten folgen, aus dem Vergehen der Zeit (es ist kein Vergehen, es ist eine Auflösung, dieses Gewebe, das man Zeit nennt, kann sich einfach auflösen, du musst nur den richtigen Blick finden). Sie stellt sich vor, ein Mann zu sein; fünfhundert Schritte lang ist sie ein Mann, der Mann, bei dem sie die Nacht verbracht hat und dessen Jacke sie trägt, sie spürt ihre herabhängenden Tränensäcke, den trägen Bauch, den müden Rücken. Der Weg macht eine Biegung, sie geht geradeaus weiter, lässt sich einen Abhang hinunterrutschen, steigt auf weicher, nachgiebiger Erde wieder hoch, eine weiße Mauer scheint zwischen den Stämmen hindurch. Sie wendet sich abrupt nach rechts, vielleicht in Richtung des Flusses, der ihr jetzt auf einem anderen Kontinent zu liegen scheint, die Stadt gibt es gar nicht mehr, die großen Lastschiffe und die Ausflugsschiffe, die diesen Fluss nach Osten hin befahren, gibt es nicht mehr. Sie streckt die Hand zum Himmel hoch und zieht ihn von sich weg, wie man ein Tuch von einer Schüssel zieht. Sie muss ihre Umgebung erfinden, nein, erfunden werden von ihrer Umgebung. Jeder ihrer Schritte muss notwendig aus der Landschaft folgen: so werden ihre Blicke hineingezogen ins Bild, und die Landschaft verändert sich mit ihren Blicken. Die Erhängten an den Bäumen, ihren toten Vater sieht sie nicht mehr, es ist nicht der Wald, so wie er hinter dem Haus (und dem Zaun und dem Kiesweg und der Einmündung des kleinen Bachs) begonnen hat, es ist kein Wald, der für dieses Haus und diesen Wald steht, es ist irgendein Wald. An jedem Ast an jedem Baum in jedem Wald in der Welt hängt ihr Vater, aber sie sieht ihn nicht mehr. Du hängst nicht da, mit deinem Vater, mit den anderen Toten, nicht, wenn du den richtigen Blick gefunden hast. So ebene Wälder wie diesen hier, denkst du, gibt es in dieser Gegend, in diesem Land gar nicht, keine Abhänge mehr, keine Steigungen. Fünfhundert Schritte lang warst du ein Mann, jetzt bist du wieder eine Frau, du kannst die Lederjacke abwerfen, dir wird nicht kalt. Du kannst dich auch noch enger in deine Lederjacke schließen, darunter bist du nackt, wie du immer nackt bist, unberührbar, geschmeidig und nackt. Unter den Fußsohlen spürst du das Reisig, weich und kratzig, eine nachgiebige Schicht aus Zweigen, Moos, den abgefallenen Blättern aus irgendeinem Herbst, die in allen Farben schillern. Ameisen laufen deine Beine hoch, du trittst auf Äste, die unter deinen Schritten zerknacken. Alles, was um dich ist, hast du in deinen Körper aufgenommen und verwandelt.
Sie sucht ihren Weg zwischen den Bäumen, ohne je zu zögern, und doch ein wenig schwankend, wie ein leichtes Schiff, das sich auf den Wellen treiben lässt, in ihren Turnschuhen, ihren Jeans, ihrer Lederjacke. Die Bluse hat sie ums Handgelenk gebunden. Sie bringt sich zum Verschwinden. Zugleich lichtet sich der Wald, nein, es scheint, als bestünde er aus zarten Stämmen, die die Sonnenstrahlen beinah durchdringen, schlanken hohen Birken, ihr Körper wäre nicht weniger fragil. Die Stämme folgen aufeinander, gleichförmig und endlos, mit Knospen wie Gelenke, der Wind rauscht ganz leise. Am Horizont wäre, als unbestimmtes weißes Licht zwischen den Bäumen, die Sonne zu erahnen. Ihr Gesicht ist ausdruckslos, aber sie spürt ein Zucken in ihren Mundwinkeln. Insekten schwirren um ihren Kopf, die Insekten irgendeines vergangenen oder zukünftigen Sommers, ihre Hände sind schmutzig. Sie kann sich plötzlich zum Boden hin beugen, als müsste sie kotzen, sie streckt ihre Zunge weit hinaus: was würde aus dem Inneren ihres Körpers kommen, welche fremde, unerhörte Substanz. Sie wischt ganz langsam die Hände an ihrer Hose ab. Sie kann die Lederjacke abwerfen, den Rest ihrer Kleider, wenn es zum Spiel gehört, das wäre eine Wendung, ganz im Wald verschwinden, ein Tier sein, ein Baum, ein Zweig, ein Blatt aus irgendeinem Herbst, totes Holz, verschwunden bleiben oder nach Tagen (Jahren, Jahrhunderten) wieder auftauchen, jetzt brauchst du niemanden mehr, brauchst mit niemandem mehr zu reden. Sie beugt sich plötzlich zum Boden hin, öffnet den Mund, streckt die Zunge weit hinaus, das ist ein Schlauch, denkst du, ein Schlauch, der die Erde in dich einsaugt, ein Tentakel, das dich mit der Wirklichkeit verbindet.
Als sie die Waschmaschine öffnet, fällt ihr ein Häufchen verdreckter Wäsche entgegen, sie hat diese Wäsche hier nicht hineingesteckt. Sie zittert,
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