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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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unter die Dusche, zuerst ist das Wasser eisig, das aus dem fix montierten etwas rostigen Duschkopf kommt, dann, als der Durchlauferhitzer anspringt, wird es immer wärmer und schließlich so heiß, dass es wehtut. Immer wieder bleibt das Plastik des Vorhangs an ihrer Haut kleben, das Getöse des Wassers umhüllt sie, löscht alle anderen Geräusche aus. Ein Prasseln kleiner heißer Nadeln an ihren Schultern, ihrer Kopfhaut, in ihrem Gesicht. Du willst diesen Schmerz. Sie findet kein Handtuch, geht ins Zimmer. Der Hund hockt mit witternd erhobenem Kopf an der Eingangstür. Der Mann schläft in seinem Sessel, der Boden knackt ganz leicht unter ihren nackten nassen Füssen, als wären unter dem Spannteppich alte Parketten versteckt. Die Schranktüren stehen einen Spalt weit offen, die Wäsche quillt durch diesen Spalt hervor, ein paar Pullover und Hemden fallen heraus, als sie eine Tür ganz öffnet. Sie findet kein Handtuch, nimmt ein Hemd, eine speckige Lederjacke, die vielleicht seit zwanzig Jahren niemand angehabt hat, dreht sich um, da hast du dein Bild, sagt sie zu dem Schlafenden, bevor sie das Hemd anzieht, darüber die Lederjacke; die Strumpfhose, die sie von einem Küchenstuhl nimmt, saugt sich an der Haut fest und ist schwer über die Beine zu ziehen. Du hast jetzt einen anderen Körper, sagt sie zu sich selbst, du dort hast das Bild und du hier den Körper, sie schlüpft in ihre Jeans, den BH lässt sie in der Küche liegen, die Bluse bindet sie um ihr nasses Haar. Der Hund klammert sich an ihr Bein und stellt sich auf, schaut zu ihr hoch, wedelt mit dem Schwanz, sie schüttelt ihn ab, schließt die Tür mit einem Knall.
    Die Menge hat keinen Anfang und kein Ende, der Platz ist in diesem Moment die Republik und die Republik ist dieser Platz, ganz egal, was gerade im Fernsehen läuft (denn natürlich wird das Sendeschema nicht gesprengt, natürlich überträgt kein Sender die Demonstration, wie viele Menschen auch immer hier wären, kein Sender würde die Demonstration übertragen und so zugeben, dass die offizielle Wirklichkeit erschüttert werden kann), ganz egal, was die Zeitungen schreiben werden, in ihrer Sprache, die, selbst wenn sie bemüht ist und nichts verdreht, alles zu gleichgültigen Informationen macht, egal, was die Politiker spätabends und morgen und am Montag daherreden werden, und sie werden Unglaubliches daherreden. Die Republik ist das, was der offiziellen Wirklichkeit entgegensteht.
    Der Himmel liegt in dunklem Grau über den Köpfen, Demonstranten halten Lichter in die Höhe, von ihrem Platz aus sieht sie nur die Lichter, nicht das Zeichen, das sie formen. Es scheint, dass der Himmel weiter über den Köpfen liegt als sonst an den grauen Wintertagen. Von dort oben im Flug über die Menge ist (so wie später aus der Zeitung) die hochgestreckte offene Hand aus Lichtern zu sehen: eine Hand, die aufhält, ne touche pas à mon pote , Widerstand bezeugt, das Symbol findet sich, so wie das durchgestrichene Mascherl, auf vielen Ansteckern und Transparenten. Hinter der Rednertribüne, an der Rampe zum Eingang der Nationalbibliothek, wo jetzt Ordner, Redner, Organisatoren, Techniker herumlaufen, warten, sich besprechen, stellt sie ein dutzend Mal im Jahr ihr Fahrrad ab, im Frühling und Herbst, stöbert zwei Treppen und zwei Glastüren weiter in den Zettelkästen mit den handgeschriebenen, maschinengeschriebenen, computerbedruckten Karteikarten aus fünf oder sechs Jahrhunderten, füllt einen oder mehrere der gelben Bestellscheine aus; wenn sie dann, nach einigen Stunden im Café oder in der Uni oder im Park, die Hürde der Ausgabestelle im Vestibül mit den Hilfsbibliothekaren in ihren blauen Kitteln überwunden hat, darf sie diese Bücher an langen Nachmittagen an einem der alten Holztische im Großen Lesesaal, am besten einem Tisch mit Blick auf den Burggarten, lesen; darf anderswo sein; immer neue Denkwelten entdecken, sich in immer komplexeren Gedankengängen zurechtfinden. Davor oder danach legt sie sich manchmal mit einem eigenen Buch auf eine der Rasenflächen am Platz, lässt die Sonne auf ihren Rücken scheinen. Niemand anderer ist in diesem Bild (wenn man die Hilfsbibliothekare in ihren blauen Kitteln nicht mitzählt). Kurz ist ihr klar, dass es ein Bild aus der Vergangenheit ist, sie wird das nie mehr tun. Eine Zeitschicht legt sich über die andere, löscht die andere aus; die Zeiten der Zettelkästen, die Zeit des Parks, dieser Samstagabend, Märztage vor vielen Jahrzehnten, deren

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