Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Bilder voller gröhlender Schwarzweißmenschen sie aus dem Fernsehen, aus Büchern kennt, der sogenannte Heldenplatz verliert und gewinnt seine Unschuld, hat nichts mit dem zu tun, wofür sein Name steht, Fanatismus und Hass; und steht dann (jetzt) fürs Gegenteil von Fanatismus und Hass, steht in der Zukunft wieder für nichts. Menschen kommen und gehen, überqueren die Rasenflächen, das Gras wächst, wird geschnitten, wächst wieder, die Menschen lassen sich auf den Parkbänken nieder, lesen, küssen sich, schauen in die Luft, stehen wieder auf, führen Hunde an der Leine, rotten sich zusammen, zerstreuen sich, sind nicht wiederzuerkennen, wenn sie zurückkommen. Seit mehr als zwei Wochen liest sie kaum etwas, vergisst, was sie liest, versteht kein Buch mehr.
Sie kann jetzt nirgendwo anders sein wollen als auf diesem Platz; sie müsste denken, dass sie hier, in dieser Freiheit, unter Menschen, mit denen sie zusammengehört, eigentlich alles sagen könnte, aber sie sagt nichts und kann nichts sagen. Es ist ein Tanz, und du fühlst dich wie ein ungelenker Teenager in einer Disco, der froh ist, wenn niemand ihn beachtet. Etwas trennt sie von allen anderen, etwas, das sie in ihren Körper zurückstößt; selbst wenn sie sich nicht rührt, kann sie mit jedem anderen zusammenstoßen, dieser Lehrer mit dem Kind auf den Schultern, diese kleine Alte, die Menschen auf der Bühne (jetzt ein berühmter französischer Philosoph, der aus dem Staunen über die Anzahl und die Begeisterung der Demonstranten gar nicht mehr herauswill und dadurch neue Begeisterung in ihr weckt) sind alle wirklicher als sie. Sie weiß nicht, was sie sich als Einzelne soll, in ihr, glaubt sie, ist nichts Eigenes, kein Geheimnis. Alles, was ihre Schwester hat, fehlt ihr, deshalb ist sie da; nicht nur da auf der Demo, überhaupt da; sie ist da, weil sie nicht da ist. Du brauchst den berühmten Philosophen aus dem Ausland und die Menge, die dich in dich zurückstößt, um glauben zu können, dass du in dieser Stadt weiter leben kannst und willst, und um zu wissen, dass es dich gibt. Du in deinen Turnschuhen, deiner Strumpfhose, deinen Jeans, deinem Slip, deinem Hemdchen, deinem T-Shirt, deinem Pullover, deinem Schal, deiner Kapuzenjacke. Du mit deiner Begeisterung und deinen Vorbehalten. Sie denkt an Monas Übungen; das, was Mona Übungen nennt und was sie nie so recht begreifen wollte. Sie denkt an Mona: die eine, die in dieser Menge von Menschen fehlt. Sie stellt sich vor, Mona würde auftauchen und vom Ring bis zum Ballhausplatz durch die Menge gehen, ohne aufgehalten zu werden, ohne sich um jemanden zu kümmern und ohne jemanden zu berühren.
Jeden Donnerstag, wird beschlossen, sollen von jetzt an Demonstrationen stattfinden, immer anderswo in der Stadt, mit immer neuen Routen, wir gehen so lange, bis die Regierung geht. Sie klatscht Beifall und hört einen Ruf aus ihrer Kehle, der in den Rufen aus vielen Kehlen aufgeht, denkt an die hupenden Autofahrer, an die Beifall klatschenden, aus den Fenstern schauenden und vor den Lokalen stehenden Menschen und fragt sich, wie lange das durchzuhalten sein wird, wie viele Donnerstage lang, und wie schnell es zur Routine werden wird; sie denkt an den älteren Autofahrer und den Polizisten und an das Land, das diesen Leuten entspricht, das eine Land, das andere, das richtige, das falsche, wer entscheidet, wer wägt ab. Sie fragt sich, wie lange sie selbst Donnerstag für Donnerstag auf die Demos gehen wird, in dieser Art, abgetrennt von allen anderen, in den wahrscheinlich immer kleineren Zügen, ahnt, dass irgendwann der Ekel in Gleichgültigkeit übergehen wird, dass der Widerstand selbst trostlos und zur Gewohnheit werden kann, unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, weil all die wirklichen Menschen hier in ihr wirkliches Leben zurückkehren. Man wird sich an diese Regierung gewöhnt haben, alles wird halb so schlimm scheinen, und doch wird alles so sein, wie es am Anfang drohte, die Gemeinheiten werden nach und nach beschlossen werden, immer ein wenig abgemildert, aber doch nur die Vorstufe zur etwas weniger abgemilderten Gemeinheit, alles wird grau und finster sein, du wirst stumm sein.
Die Menge dünnt langsam aus. Dort, wo mehr als eine Stunde lang der Lehrer mit dem Kind auf den Schultern gestanden war, ist jetzt ein struppiger älterer Mann in einer Jacke, die ihm eindeutig nicht passt. Sie hat sich zufällig zu ihm hingedreht, er schaut sie an, als würde er sie wiedererkennen oder sich
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