Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
zumindest fragen, ob er sie nicht schon einmal gesehen haben könnte, sie wendet sich schnell ab, aus Angst, er könnte sie ansprechen. Ein Hund bellt. Auf der festgetretenen Erde rund um sie wächst spärliches Gras, winterlich graue kurze Hälmchen, ihre Hände in den Jackentaschen fühlen sich kalt an, ihre Haut ist rau und rot. Nach den französischen Gästen (der Philosoph, ein Politiker, der Schauspieler Michel Piccoli) versuchen noch einmal die Moderatoren die Stimmung aufrechtzuerhalten, es gibt keine neuen Redner. Der Hund will nicht aufhören zu bellen. Sie hat Hunger und Durst, an den Imbissständen am Ring haben sich sicher längst Schlangen gebildet. Wieder tut ihr Rücken weh, wieder fangen ihre Füße in den Turnschuhen zu stinken an, sie bleibt an ihrem Platz stehen, will nicht, dass dieser Tag aufhört (diese Zeit; diese Öffnung in der Zeit), dass diese Demonstration aufhört, sie will nicht nach Hause gehen (will nicht, dass sich die Wunde schließt; die Öffnung in der Zeit): könntest du nur zusehen, wie sich dein Körper verändert und mit deinem Körper die Stadt, hinter der Pracht der von Scheinwerfern bestrahlten Burg das Skelett des Gebäudes sichtbar wird, in diesem Skelett alle Schichten von Aufbau und Zerstörung aus der Vergangenheit und der Zukunft gleichzeitig, dein Körper, der keine Nahrung mehr braucht, wühlt sich wie ein Tier durch diese zeitlose Stadt, über Treppen und Gänge, von Stockwerk zu Stockwerk, durchs Innere der Wände, der Rohre. Du denkst an Monas Übungen: glaubst sie für einen Moment zu begreifen. Dir scheint, du könntest Platz tauschen, mit ihr, mit irgendeiner (du willst nichts mehr für dich), jemand könnte an deiner Stelle handeln oder du an der Stelle jemandes anderen (an Monas Stelle). Sie will nicht, dass dieser Tag aufhört; indem man heimgeht, bricht man die Magie. Dann bekommen die Zeitungen ihr Recht, dann bekommt das Fernsehen sein Recht, sie wird (in dieser Nacht oder erst morgen, wenn der neue Schock, die plötzliche neue Hoffnung, verdaut sind und beinah alles wieder so ist wie in den letzten Wochen) den Computer und den Fernseher anschalten und vergebens nach einem Ort suchen, wo das, was sie eben erlebt hat, zu seinem Recht kommt: nirgendwo sind die Reden dieses Tages abgedruckt, nirgendwo ist die Euphorie dieses Tages festgehalten. Alles ist abzuhaken, alles ist beliebig interpretierbar: wenn man die ausländischen Kommunisten abzieht, wird morgen der Sekretär der rechtsradikalen Partei sagen, war so gut wie niemand bei der Demo; das ist das Besondere an diesen Leuten, denkst du, die Schamlosigkeit, mit der sie alle offenkundigen Fakten leugnen und an die Stelle der Wirklichkeit eine beliebige und im Lauf der Zeit auch immer wieder veränderte und der vorherigen Version sogar widersprechende ihnen gerade genehme erfundene Wirklichkeit setzen; die Schamlosigkeit und die Souveränität, mit der sie diese Technik verwenden, die man nicht einmal mehr einfach Lügen nennen kann. Sie ahnt, dass diese Schamlosigkeit und Souveränität ein Vorteil sind, gegen den man kaum ankommt; egal, ob man Beweise auf seiner Seite hat, die doch nur die wirkliche Wirklichkeit betreffen, also etwas Nichtiges. Und gerade du hast keine Beweise, weil du dabei bist, deinen Platz in der wirklichen Wirklichkeit zu verlieren. Zwei- oder dreihunderttausend Leute sind einfach aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit auszulöschen. Wie leicht kann jede einzelne verlöschen.
Es ist beinah elf, als sie die Wohnungstür aufsperrt, der Vorraum ist dunkel, nichts scheint verändert. Sie schlüpft aus den Schuhen, zieht ihre Jacke aus, wirft einen Blick auf den Anrufbeantworter, das rote Licht blinkt nicht. Irgendein Geruch liegt in der Luft: etwas Muffiges und zugleich Leichtes, ein vertrauter und zugleich völlig unbekannter Geruch. Du denkst an den Sonntag vor viereinhalb Jahren, du denkst an euren Vater. Den Baum, den Ast. In deinem Zimmer schaltest du den Computer ein, niemand wird dir heute geschrieben haben. Du gehst in die Küche und trinkst ein Glas Wasser. Die Euphorie ist in dir, auf einen Rest ausgedünnt, sinnlos, ein Wissen, das du nicht teilen kannst, eine Lust, die ins Leere läuft; eine Verliebtheit in jemanden, der nicht da sein wird, jemanden, den es nicht gibt, in einen Moment, den es nicht mehr geben wird, eine Verliebtheit in niemanden. Du spürst, dass du Kopfweh bekommen wirst. Ein vor Wochen angefangenes Buch (Don DeLillo, Underworld) liegt neben deinem
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