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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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flüchtigem Blick dachte, 1919: er merkt es als einen kleinen Schock, und es drängt ihn danach, auf den Fotos des Mädchens oder der Mädchen diese Monica S. zu erkennen; oder besser noch, auszuschließen, dass sie es sein könnte, aber wie sollte er das ausschließen. Das Licht auf den beiden Fotos ist etwas unterschiedlich; als wäre der Fotograf sich nicht sicher gewesen, ob das erste Foto (ohne Blitzlicht?) nicht falsch belichtet war. Auch die Fotos des Zimmers unterscheiden sich nur durch das Licht, die Helligkeit; sie scheinen zu verschiedenen Tageszeiten aufgenommen, bei unterschiedlichem Wetter; es muss das Zimmer eines jungen Menschen sein, das zeigen die spärlichen Möbel, die Matratze am Boden, die leise Unordnung, die etwas Achtloses und Freies an sich hat, nicht etwas Krankhaftes, Stinkendes, wie die Unordnung in den Wohnungen von Menschen seines Alters sie ausstrahlt, es könnte das Zimmer dieser Monica S. sein. Auf dem Begräbnisfoto sind ein paar Kranzschleifen halb zu lesen, ein oder zwei Namen, dann: Deine Mutter. Monica Stanek 1979-2000, warum schmerzt ihn jetzt der Tod dieser jungen Frau vor bald fünfzehn Jahren, er hat sie nicht gekannt und hätte ihr nie nahekommen können, dieser Frau, die, so lange sie lebte, immer mehr als zwanzig Jahre jünger gewesen ist als er und die fast noch ein Kind war, als sie starb, dieser Frau, für die er nur irgendein Fünfzigjähriger, also ein Alter gewesen wäre. Vor bald fünfzehn Jahren hat man sie in einen Sarg gelegt, den Sarg auf den Sarg ihres Vaters, es muss wohl ihr Vater sein, gestapelt, Erde auf sie geschaufelt. Das Lied Stieflein muss sterben fällt ihm ein; die vollkommene Verzweiflung, in die ihn dieses Lied einmal gestürzt hat (war er fünf, war er sieben Jahre alt?). Er zählt die Fotos: 37; auf knapp der Hälfte von ihnen sind Menschen zu sehen. Er reißt das andere Filmtäschchen auf, dort sind die Menschen, die Mädchen wiederzuerkennen. Auf allen Fotos sind die Farben falsch: gelb, ältlich, aus einer anderen Welt. Plötzlich versteht er, dass das nicht einfach ein Spiel ist; es ist nicht alles ein Spiel.

Es ist nicht sicher, dass das Haus im Süden liegt, auch wenn fast immer die Sonne scheint, die Sommer kehren wieder, manchmal leuchten die Pflanzen im Garten in beinah unwirklichen grünen, roten, violetten Farbtönen auf, die Gesichter, die nackten Arme, die Körper werden dann zu anderen, fremderen Pflanzen oder die Pflanzen zu anderen, fremderen Körpern, dieses Muster muss es immer gegeben haben, dieses Muster muss es immer weiter geben. Davon hängt alles ab. Manchmal fällt das Sonnenlicht schräg durch die Jalousien in die weißgestrichenen Räume, dann beginnt die Müdigkeit sich auszubreiten, jeder Lichtstreifen bringt einen neuen Raum hervor. Nach einiger Zeit sind Möbel wiederzuerkennen, die Sofas, die Sessel, Vitrinen mit spiegelndem Glas, hinter dem unbekannte Dinge aufbewahrt sind. Auf den ersten Aufnahmen sind sie fast noch Kinder, aber langsam werden die Mädchen älter, von Bild zu Bild (doch man kann zurückblättern), man könnte glauben, das Haus inzwischen zu kennen, die Anordnung der Räume mit geschlossenen Augen rekapitulieren zu können, aber immer wieder schieben sich, wenn man sie in der Vorstellung durchwandert, neue Kammern oder Gänge, neue Ecken und Windungen ins Bild, immer wieder musst du zurückblättern: sodass dir manchmal scheint, du würdest Jahre brauchen, um in den Garten zu gelangen, manche Räume würdest du niemals finden, andere, an die du dich erinnerst, nicht wiederfinden, du wärst in den wiederkehrenden Sommern eingeschlossen wie in einem Päckchen bebilderter Karten, das Daumenkino eines endlosen Filmes voller Abbrüche, Verzweigungen, Neuanfänge.

III
(Wald)
    Sie schaut zum Himmel, dem diesigen Horizont hinter den Häusern. Du kannst warten, dass dunkle Wolken zu Gebirgen werden, hoch aufragenden von dichten Wäldern bedeckten Wänden, in denen kaum ein Pfad Durchlass bietet. Du hüllst dich in deine schwere Lederjacke, die dir wie der Panzer eines Insekts scheint; du lässt deine Schultern kreisen. Die Bluse klebt kalt an deinem nassen Haar, wirf sie weg. Am Anfang sind Häuser zu sehen, Supermärkte, Banken, Autos, dann eine Böschung mit Schienen in einem Kiesbett, eine Straße, der Fluss, dann befindet sie sich auf dem Waldweg. Der Boden knirscht unter ihren Schritten. Die Luft ist feucht: der Himmel hängt schwer über der Erde, im Lauf des Tages kann er immer leichter werden,

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