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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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gehen an ihr vorbei und ruhen außerhalb von ihr, in einer Art dunkler Truhe, einer Hölle, sie lebt außerhalb der Hölle, in der sie lebt, er stellt sich vor, er könnte alle so wahrnehmen, wie er dieses dicke Mädchen aus dem Einkaufszentrum jetzt wahrnimmt, in gleichmäßiger Distanz, voller Verständnis, doch ohne von ihr berührt zu sein, der Rest seines Lebens wäre ein Roman, in dem er nicht vorkommt.
    Sein Wagen befindet sich auf dem Gürtel, während es (vielleicht wegen des Regens, vielleicht ist mehr Zeit vergangen als er ahnt) draußen so dunkel wird, dass er die Scheinwerfer einschaltet, er fährt (oder steht, denn es geht kaum noch voran) auf einem mittleren Fahrstreifen; warum ist er ausgerechnet auf dem Gürtel gelandet, soll er links blinken oder rechts, um sich in eine Lücke zu zwängen, auf eine Gelegenheit zum Abbiegen zu warten, die rote Linie auf dem Display des Navis steht still, er überlegt, den Ton wieder einzuschalten, um irgendeiner möglichen sinnlosen Anweisung folgen zu können, stattdessen macht er das Radio an. Alle armen und hässlichen Menschen, denkt er, leben in einem Roman, in dem sie selbst nicht vorkommen, außerhalb der Hölle, in der sie leben, alles, was ihnen wirklich zustößt, stopfen sie in eine dunkle Truhe, sie dürfen nur nicht beginnen zu denken, sie dürfen nur niemals schlafen, denn dann kriecht die Wirklichkeit aus der dunklen Truhe in ihre Träume hinein, wenn ich jetzt alt bin, denkt er; alt, nackt und allein (seine Hände zittern nicht, er atmet gleichmäßig). Im Radio beginnt das Abendjournal, das er vom Vietnamkrieg an fast vierzig Jahre lang mit über die letzten zwanzig Jahre fast gleichmäßig schwindender Neugier angehört hat, er wechselt den Sender, er biegt in eine Straße, die im sechzehnten Bezirk liegen muss, fährt am großen Gelände eines Autoersatzteilhändlers und einigen türkischen Lokalen vorbei, ohne einen Parkplatz zu finden. Er muss auf einem abwegigen Radiosender gelandet sein, aber etwas hält ihn davon ab, den Sender zu wechseln oder einfach auszuschalten, eine junge Frau flüstert , I’ll tie your legs, keep you against my chest, no, you’re not rid of me, dann wird die Musik immer schneller und immer lauter, am Ende schreit sie: You’re not rid of me, I’ll make you lick my injuries, I’m gonna twist your head off, see… Er muss sofort einen Parkplatz finden und aussteigen, sonst hält er es nicht mehr aus; sonst beschleunigt er, beschleunigt, beschleunigt, fährt am nächsten Zebrastreifen eine Fußgängergruppe nieder, kracht in eine Hausmauer mit seinem schönen dunklen glänzenden blutverschmierten Wagen.
    In dem Lokal sind wenige Tische besetzt, so wie immer (oder so wie früher) zögert er vor der Eingangstür und hat im ersten Moment das Gefühl, es wäre unzulässig und in unbestimmter Weise verdächtig, abends allein essen zu gehen, obwohl es hier ganz offensichtlich völlig egal ist, wer warum und mit wem herkommt, es zählt nur, dass man sich hier vollstopfen kann, mit sicherlich schlechtem Essen; und vor allem volllaufen lassen. Während er auf sein Bier wartet, schaut er auf einen Hinterkopf, der ihm seltsam bekannt erscheint, als hätte er ihn vor endlos langer Zeit schon einmal gesehen; dieser Mann sitzt mit drei anderen an einem Tisch, alle scheinen zu schweigen, eine Frau im Businesskostüm mit flackerndem Blick und zwei Männer mittleren Alters (also viel jünger als du; das wundert dich immer wieder) in guten Anzügen, der Hinterkopf trägt dagegen eine farblose alte Jacke und passt überhaupt nicht zu den anderen, die ihn anschweigen. Eine Nato-Jacke, fällt dir plötzlich ein, und dich erfasst ein Impuls, dich zu verstecken. Die Fetzen auf der Straße können reden, die Leichenfetzen auf der Straße; in deinem Kopf dröhnt die Musik aus dem Autoradio immer weiter, lick my legs, I’m on fire , der Hinterkopf wendet sich zur Seite, dem neben ihm sitzenden Mann zu. Er ist es wirklich, dieser Herbert; und was dir immer noch unendlich lange her erscheint, war erst gestern. Du merkst, dass dieser Mann, der heute wahrscheinlich schon nicht mehr Herbert heißt (während du immer noch denselben Namen wie gestern benutzen müsstest), offenbar unablässig redet, während die anderen drei schweigen; sie sitzen bloß drei oder vier Tische von dir entfernt, und dennoch hörst du nichts, ein dumpfes Geräusch in der Luft übertönt alles, ein Geräusch in der Luft, in deinen Ohren, ein unbestimmter Druck, den du als

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