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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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recht zugehört hat, er läuft zum Anrufbeantworter und drückt auf den Wiedergabeknopf. Sie haben keine Nachrichten, sagt die Männerstimme. Offenbar hat er den Anruf gelöscht, ohne es zu überlegen, er kann sich nicht daran erinnern; ihm kommt es vor, als wäre das die einzig wirkliche Aktivität gewesen, die er in den letzten Wochen oder Monaten oder Jahren gesetzt hat. Auf der Anrufliste steht unbekannte Nummer 12:43 , unbekannte Nummer 12:56 , er erinnert sich haargenau an den ersten Anruf, er schaut auf die Uhr, es ist nach vier; was hat er eigentlich in den letzten Stunden gemacht. Geh doch hinaus, aus dieser unwirklichen Wohnung, mit tauben Gliedern, in die unwirklichere Wirklichkeit. Der Stapel von Fotos im Wohnzimmer neben seinem Computer schaut ihn an, fremd und nichtssagend, irgendein Stapel von irgendwelchen Fotos. Er redet sich ein, er könnte wirklich hinausgehen.
    Als er die Tür hinter sich zugeworfen hat, ist er sich im ersten Moment nicht sicher, ob er den Schlüssel eingesteckt hat; er ist sich nicht einmal völlig sicher, ob er richtig angezogen ist oder noch seine Pyjamahose trägt. Er hat eine Hose an, geputzte Schuhe, ein Sakko, sein Gesicht ist (aus unserer Perspektive) so leer wie es immer war, niemand würde ihm etwas anmerken, auch seine Hände zittern nicht mehr, nicht einmal, als er vom Gang aus glaubt, das Telefon in der Wohnung zu hören, er muss sich täuschen, man hört vom Gang dieses Hauses aus nicht, wenn in der Wohnung das Telefon läutet. Er geht zu seinem Auto, das in der Garage wartet, und stellt sich vor, er könnte wegfahren, ohne je zurückzukehren. Es gibt niemanden mehr, den er verständigen müsste, es gibt niemanden, der sich um ihn sorgen würde, es gibt niemanden, den er verletzen kann. Das Navi schaltet sich ein, er gibt keine Adresse ein, er fühlt sich gleich wohl in dem dunklen Gehäuse aus Metall, das ihn umschließt. Er wird in eine Gegend fahren, in der er gewiss nichts verloren hat, ins erstbeste Lokal gehen, das Erstbeste von der Speisekarte bestellen, er hat in keiner Gegend etwas verloren, er stellt sich ein Stadtviertel vor, das es bisher für ihn oder am besten überhaupt nicht gegeben hat. Auf dem Navi folgt eine rote Linie den Einbahnstraßen, vor roten Ampeln sagt ihm eine Frauenstimme, jetzt links abbiegen , gut, denkt er, aber warum, er schaltet den Ton aus. Er wird nie allein sein, immer warten diese Stimmen auf ihn; auch wenn er keine Bekannten und Freunde mehr hat (denn all seine Bekannten und sogenannten Freunde erkennt er nun nur noch als Bekannte und Freunde von Pre oder eines gemeinsamen Wesens, das er und Pre waren und das es nicht mehr gibt), diese Stimmen sind immer da und zu seinen Diensten. Das Auto (nun ja, ein Mercedes) fährt leise, fast geräuschlos, er schaltet leise, fast geräuschlos. Seine Hände können nicht zittern; sein Herz kann nicht zu schnell klopfen; sein Bewusstsein ist eingeschlagen in die Leichtigkeit des Fahrens und der ihm vom Fahren abverlangten Aufmerksamkeit. Sonst ist da nur die Erwartung, dass das Gehäuse sich öffnet; eine fast neutrale Erwartung.
    Er sehnt sich nach dreckigen alten Vierteln mit schiefen kleinen Häusern und schlecht gepflasterten Straßen. Irgendwo muss es ein dreckiges altes Viertel mit schiefen kleinen Häusern und schlecht gepflasterten Straßen geben, ein Viertel mit unbestimmten Grenzen, in dem man sich leicht verlaufen kann, und wenn es dazu in der Stadt eine zweite Stadt braucht. Es braucht doch auch in seinem Leben so etwas: einen versteckten Keim, aus dem das Unbekannte hervorwachsen kann. In ihm selbst gibt es diesen Keim nicht; aber sein Leben besteht so wie jedes Leben nicht nur aus ihm selbst, sein Leben besteht aus ihm selbst und allem, was ihm zustößt. Ihm kann etwas zustoßen. Er kann Menschen begegnen; in einem dreckigen alten Stadtviertel, im erstbesten Lokal, wenn er den Blick von seinem sicherlich scheußlichen Essen und seinem Bier hebt, er könnte sogar einer Frau begegnen, warum nicht, wenn er doch fliegen kann, er könnte in einer Gegend, in der er nichts verloren hat, in der unwirklicheren Unwirklichkeit einer zweiten Stadt einer Frau begegnen, die er nicht kennt und an die er sich erinnert, er lenkt sein Auto durch die Gassen, den stockenden Verkehr, den einsetzenden Nieselregen. Das dicke Mädchen aus dem Einkaufszentrum fällt ihm ein; er stellt sich vor, durchs Leben zu taumeln, ohne einen Gedanken, vielleicht kann sie das, jeder Schmerz und jede Demütigung

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