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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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Sauerkraut riechen zu ihm herauf, werden auf dem Teller kalt, er kaut an einer dicken Brotscheibe, Herbert sitzt jetzt ihm gegenüber am Tisch. Bild dir nur nichts ein, Alter, sagt er scharf. Du hast keine Ahnung. Du glaubst, die andern sind Viecher oder weniger als Viecher. Du weißt nicht, wie tief es hinunter geht.
    Ich erzähl dir was, sagt er, und taucht dich wieder und vielleicht wortgleich wie gestern in sein Leben ein (als wäre dir nicht dein eigenes Leben schon zu viel). Und du verstehst wieder nicht, was er erzählt, jetzt aber scheint dir, er erzählte mit seinem Körper; ohne dass er sich bewegen oder irgendwelche Gesten machen würde: du fragst dich, ob (als wäre dieser Mann nicht bloß ein wirklicher Mann, sondern geschickt gemalt oder doppelt und mehrfach belichtet) hinter diesem Körper ein zweiter Körper versteckt sein kann und nun durchscheint, als würde er sich nur im monotonen Sprechen diesen anderen fremderen Körper ertanzen. Du horchst darauf, wie er seine Sätze skandiert, Wahrheiten, die sich in andere Wahrheiten schieben, sie durchstoßen. Hinter den glasigen alkoholgetränkten Augen dieses Mannes liegt eine spiegelnde Fläche, auf der du ausrutschst mit deinem Blick. Du versuchst das dunkelrote grobporige Gesicht hinter den Bartstoppeln im Blick festzuhalten, es löst sich in Einzelteile auf, du bist dir nicht sicher, ob der Körper darunter noch zu diesem Mann, noch zu einem Menschen gehört. Etwas Zartes ist da, etwas Zartes und leicht Ekliges, es gibt ein Wissen, das aus dem Körper kommt, nicht aus deinem, nicht aus irgendeinem bestimmten, nicht aus einem Menschenkörper, es kommt aus einem Körper, der zufällig irgendein bestimmter, deiner, ein Menschenkörper sein kann, vor allem aber Wissen ist. Du bist dir nicht sicher, ob du noch Haut hast, die deinen Körper umhüllt, dein Gesicht formt, Augen, einen Mund, Grenzen; ob nicht wie ein Dunst etwas in dich eindringt, etwas Fremdes und doch, vielleicht von einer ganz alten Angst her, Vertrautes, dessen Wirkung du nie kontrollieren wirst können. Sonst weiß er nur nachts, in der Schlaflosigkeit oder im Alptraum, dass er wirklich sterben wird und in jedem Moment sterben kann; und nicht weil dieser Moment ihm bestimmt ist, sondern ganz zufällig, aus Versehen, weil er zum Beispiel am Vortag etwas Falsches gegessen hat und sich an seiner Kotze verschluckt, am Bier, an der Bratwurst, am Sauerkraut, und ganz einfach erstickt, in dieser Sekunde. Er wird wirklich sterben. Er möchte die Augen schließen, sich in seinem Auto wiederfinden, die ganz Nacht lang durchfahren, eine endlose Autobahn, ohne Ampeln, ohne Staus, ab und zu einen Lastwagen, einen der weißen Containerwagen, die Tag und Nacht durch Europa unterwegs sind, oder irgendein langsames kleines altes Auto (das er sich ebenfalls weiß vorstellt) überholen, der Fuß auf dem Gaspedal, die Hand am Lenkrad, minimal bewegt, Lichter, die nichts anzeigen, Ortsnamen für Orte, die es nicht gibt, Zahlen, die in keine Entfernungen zu übersetzen sind, die breite Straße vor ihm wie eine Projektion, nichts sonst. Kurz erinnert er sich, dass er sich irgendwann, nein, vor kaum einer Stunde, vorgestellt hat, er könnte eine Frau treffen und womöglich dieser Frau irgendetwas Beeindruckendes erklären, irgendetwas Beeindruckendes, von dem er bis jetzt selbst noch keine Ahnung hatte und das ihn selbst nun am meisten beeindrucken würde und ihn sozusagen in einen jungen Mann zurückverwandelte, stattdessen sitzt er Herbert oder jemandem, der ihm als Herbert erschienen ist, gegenüber; viel zu nah; und wenn er sich verwandelt, dann sicher nicht in einen jungen Mann, sondern in etwas, für das er keinen Namen und keine Erklärung hat und das niemanden je beeindrucken wird. Auch das wäre eine Zurückverwandlung. Es gibt keine andere Richtung als zurück, gerade das Neue, das schreckliche, das begeisternde Neue kann man nicht erkennen, nur wiedererkennen, erst das – das Wiedererkennen seiner Formlosigkeit – macht es neu (du hast doch so etwas in deiner Dissertation geschrieben und möglicherweise auch wirklich gedacht, ohne es allzu genau zu verstehen; als du schon lang genug an dem Ding herumgeschrieben hattest, um die Kurve von Mao zu Foucault zu kratzen, in irgendeiner Überarbeitungsphase).
    Er versucht, auf die Uhr zu schauen, greift stattdessen nach seinem Bierglas und hat den Eindruck, durchs Glas hindurchzugreifen (oder rückt das Glas von ihm weg), auf dem Tisch sitzt, statt seines

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