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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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was du gemeinsam mit Pre (oder ohne Pre, aber im Bewusstsein, es Pre erzählen zu können) getan hast, verlieren ihre Bedeutung und sind ausgelöscht, seine Hände zittern, du hast es doch so gewollt, sagt er sich, du wolltest doch allein sein, du wolltest eine andere Welt. Du willst es doch, und willst, dass dich nicht kümmert, was du willst; als würdest du (über alle hinweggestiegen) den Rest deines Lebens als einen Roman lesen dürfen.
    Er geht, fast auf Zehenspitzen, um die Stille nicht zu stören oder um nicht aufzuschrecken, was in der Stille lauert, zu Pres Zimmer, schiebt die Tür auf und bleibt auf der Schwelle stehen: der Schreibtisch, das Sofa, der Tisch, der Schrank, das Akten-Bücher-Skriptenregal, das Bild ( Studie XII/4 ), das er ihr einmal geschenkt hat, die Musikanlage; er kann nicht sagen, ob etwas fehlt, dazu hat er zu selten diese Tür aufgemacht; aber es ist merkwürdig, dass ihr Laptop noch dasteht, auf dem Schreibtisch vor dem Fenster, durch das Kastanienbäume hereinschauen; was ist ein Mensch ohne seinen Laptop. Ihre Arbeit, ihre Briefe, ihre Mails, ihre Fotos, ihre Musik. Hätte nicht er es wagen sollen zu gehen; aber wann hat er so etwas je gewagt. Er kann doch nicht gehen, er kann höchstens fliegen.
    Seit über dreißig Jahren hat er das Verlassenwerden nicht mehr erlebt, nun steht er im Bild seiner Wohnung vor dem Bild von Pres Zimmer und versucht sich vorzustellen, dass eine wirkliche Pre, mit ihrer Stimme, die er gerade erst aus einem Telefonapparat gehört hat, irgendwo irgendein Leben (das ihres ist) führt, während sie hier etwas zurückgelassen hat, für ihn, aber nicht für ihn, etwas Lebendiges, das tot ist. All das ist wie eine Wiederholung, aber im falschen Bildraum, ins falsche Leben hinein. Es gibt in ihm keine Wunde, die neu aufbrechen kann. Inzwischen, denkt er, ist er taub gegen das Verlassenwerden, dieses Erleben, diese Verzweiflung, es ist kein Erleben mehr, nur eine Wiederholung im falschen Bildraum, auch seine Verzweiflungen von vor dreißig, dreiunddreißig, siebenunddreißig, einundvierzig Jahren glaubt er sich nicht mehr, sie erscheinen ihm unernst. Das alles geht ihn nichts an, doch sein Herz klopft zu schnell, ihm ist schlecht, seine Beine sind weich (also doch, denkt er), das Bild (so ist das also) wird unscharf, er kann an den Rändern Dinge verwechseln, eine auf dem Boden stehende Schachtel verrutscht zu einem Stofftier, das Stofftier (er erkennt es gleich wieder, ein Esel mit dem Namen Emil) lächelt ihn mit schiefem Gesicht an und scheint etwas zu ihm zu sagen, aber es ist ganz still. Er macht ein paar Schritte und lässt sich hinsinken.
    Er erholt sich gleich wieder, er liegt auf dem Sofa in Pres Zimmer, macht die Augen auf, nur um sie schnell wieder zu schließen, ein sanftes Gefühl ohne Quelle und ohne Inhalt hat sich in ihm ausgebreitet, vor seinem Geist sieht er ganz deutlich das Gesicht einer Frau, von der er im ersten Moment nur weiß, dass sie nicht Pre ist, eine Frau aus seiner Vergangenheit, aus irgendeiner ihm bekannten Vergangenheit, was heißt das schon, Vergangenheit. Ein Esel namens Emil mit schief ins Gesicht genähtem Lächeln, wie hießen seine anderen Stofftiere, seine Eltern, seine Freunde, seine Geliebten (die ihn vor dreißig, dreiunddreißig, siebenunddreißig, einundvierzig Jahren, gestern verlassen haben), seine Toten, über die er hinweggeht. Gleich steht er wieder auf, gleich kehrt er wieder zurück, gleich macht er weiter mit dem Zurückkehren. Wenn schon Pre nicht zurückkehrt, er wird unablässig zurückkehren.
    Er bemüht sich, auf dem Sofa die Dellen, die er hinterlassen hat, glattzustreichen, bevor er aus dem Zimmer geht, alles soll unberührt und unwirklich erscheinen; so unwirklich wie das Zimmer für ihn jetzt geworden ist: so genau er es kennt und obwohl er jede Veränderung und jedes Möbelumstellen in den letzten zwanzig Jahren, die sie hier gewohnt haben, halbwegs rekonstruieren könnte, es ist irgendeine unerreichbare Vergangenheit oder Zukunft, in der dieser Raum bewohnbar war und er sozusagen ein Leben als Ehemann führte, daheim in dieser Wohnung, frei, in dieses Zimmer zu jeder Tages- und Nachtzeit hineinzuschauen, ohne unbedingt anzuklopfen, jedenfalls früher, vertraut mit den Möbeln, den Gegenständen, dem Geruch (riecht er noch etwas? nein, sicher nicht, auch das Badezimmer erfüllt jetzt nur noch der chemische Blütenduft des Kloreinigers). Es erschreckt ihn ein wenig, dass er bei Pres Anruf nicht so

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