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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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Geräusch wahrnimmst.
    Es drängt ihn, sich umzusetzen, mit dem Rücken zu Herbert und seinen Opfern (so verstehst du es jetzt, auch wenn du nicht verstehst, wie er gleich drei Leute rekrutieren hat können), aber gleichzeitig fürchtet er, dadurch erst recht Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er steht ganz leise auf, um aufs Klo zu gehen; er sperrt sich in der Kabine ein, obwohl er nur pinkeln muss; er stellt sich vor, wie er auf komische und selbstironische Weise Pre von seinem gestrigen Treffen mit Herrn Herbert und seinem heutigen Wiedertreffen mit Herrn Herbert erzählen würde; wie er ihr davon erzählt hätte; und fühlt einen Stich in der Brust. Er drückt auf den Spülknopf, spürt, wie die letzten Tropfen Urin in seine Unterhose sickern und seine Beine hinablaufen, nicht so viel, dass man es sehen wird, nicht so viel, dass man es riechen wird, er stützt den Unterarm an die Wand und presst seine Stirn darauf, gestern wäre er nicht auf die Idee gekommen, Pre irgendetwas von seinem Treffen mit Herrn Herbert zu erzählen, gestern brauchte er es nicht erzählen zu wollen, weil er gewiss war, immer alles erzählen zu können, und weil es ihm sogar lästig war, dass immer jemand da war, dem er alles erzählen konnte und also erzählen musste; jemand, der ihn überwachte, gedankenlos und absichtslos, aber dadurch nur umso wirksamer. Sich so an die Wand drücken, denkt er, dass er darin verschwindet; dass sein Rückgrat zerknickt wie die Karosserie des Autos, als wäre es aus Papier, an der Hausmauer zerquetscht und zerknüllt wird und das Blut und die Knochen fremder Menschen sich mit seinem Blut und seinen Knochen vermengen, Fetzen auf der Straße. Noch einmal alles auslöschen, und noch einmal und noch einmal, bis die Wand ihn aufnimmt.
    Er wäscht sich gründlich die Hände, unter flackerndem Neonlicht. Durch Küchengerüche hindurch geht er an der Ausschank vorbei zu seinem Tisch, der Kellner im weißen Hemd, der ein Bierglas schräg unter den Zapfhahn hält, schaut ihn schräg an. Auf seinem Tisch steht ein Teller mit Bratwürsten und Sauerkraut (nie wird er das essen können). Sobald er sich widerwillig hingesetzt hat, den Hinterkopf noch deutlicher als davor im Blick oder im Bewusstsein, dreht sich Herbert (als hätte er ihn stumm herbeigerufen) zu ihm um. Servus, Herr Doktor, wie geht’s dir, schreit Herbert über die Tische hinweg durch die Leere des Lokals, die anderen sind verschwunden, du denkst, sie sind nicht gegangen, sie haben sich aufgelöst, so wie du selbst dich gleich auflösen wirst. Der Kellner stellt das Bier vor Herbert hin, die Teller und Gläser der anderen sind abgeräumt, der Tisch ist gewischt. Du trinkst mit einem langen Zug dein Bier aus, schaust suchend zum Kellner, der dich nicht wahrnimmt. Du schwitzt und merkst, wie dein Gesicht sich rötet. Du greifst nach deinem Autoschlüssel, deinem Portemonnaie, du hast einen Autoschlüssel in der Sakkotasche, ein Portemonnaie in der Hosentasche, all das hast du noch, du hast einen Namen.
    Gell, du verfolgst mich, Herr Doktor, und er grinst mit Bartstoppeln und schiefem Mund und zugleich einer seltsamen Art von Reinheit. Gestern hat er dich noch Meister genannt. Du fühlst dich, als würdest du ihn wirklich verfolgen und als würde dein Gesicht sich aus Scham röten und nicht aus Übermüdung, hohem Blutdruck oder einfach vor Angst (als wäre nicht einfach Angst die Quelle von allem). Man muss einen falschen Bildraum schaffen, ein falsches Leben, dann geht alles wie von selbst. Einen Raum, wo man sich immer glauben kann und die anderen schuld sind. Das dicke Mädchen, dieser falsche Herbert, die Leute, die im Einkaufszentrum blaue Parteiluftballons entgegennehmen, diese Leute, mit denen du nichts zu tun hast, diese Dummköpfe, die sicherlich alles verachten, was dir je wichtig war, und es zerstören wollen und die auch immerzu ihren eigenen Interessen schaden und sich betrügen lassen von den Verbrechern und Nazis, denen sie allesamt gerne nachlaufen (was du zwanzig Jahre lang quälend gefunden hast): du beneidest diese Leute jetzt, sie sind so ekelhaft, so verlogen, so rein, so taub gegen ihre Verzweiflung. Eine graue Schicht bedeckt sie. Sie können mit jedem reden, immerzu, und sich selbst immer recht geben. Sie können jede Dummheit, die sie begangen haben, sofort vergessen und stürzen sich in die nächste Dummheit und finden daran Halt, und wenn nicht, dann sterben sie einfach und sind sofort vergessen. Die Bratwürstchen und das

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