Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
nein, sie weiß, niemand kann mir helfen, sie denkt, ich kann nichts tun, nein, sie weiß es. Der verrückte Typ, nun gut, halbverrückte Typ in dem zugemüllten Haus hat ihr so wenig helfen können wie alle anderen. Alle Zusammenhänge, die sich ihr zeigen, erscheinen ihr gleichermaßen unwahrscheinlich und verheerend: eine fremde Ordnung, die über ihr Leben gestülpt ist. Sie wird sich zu Hause in die Badewanne legen, weinen, jeden Donnerstag und dazu noch jeden Samstag wird für sie, und ohne ihr zu helfen, gegen die Wirklichkeit demonstriert, sie muss mitdemonstrieren, zwischen Alten und Jungen, Männern und Frauen, Armen und Reichen (nur Ausländer sind fast keine dabei), an einem Samstag, als sie besonders wenige sind (aber das ist viel später, im Sommer, in einer anderen Zeit), applaudiert mit verzweifelter Euphorie ein amerikanischer Tourist (sie denkt, jemand, dessen Großmutter man hier umgebracht hat), sie möchte ihm sagen, wir sind eigentlich viel mehr, und bringt den Mund nicht auf). Zwei bösartige Gnome wie aus einem schlechten Märchen haben mit einer Bande von Gaunern und Faschisten die Macht im Land übernommen, und ihr Leben bricht auseinander. Diese Dinge haben nichts miteinander zu tun, will sie sich sagen, und doch gibt es einen unwahrscheinlichen und verheerenden Zusammenhang. Für dich ist alles zu Ende und für das Land. Sie steht jeden Tag auf, trinkt ihren Kaffee, isst Frühstück, isst zu Abend, liest Zeitung, blättert in ihrem Buch, schaut aufs Telefon und wartet auf Anrufe, dreht den Fernseher, öfter das Radio auf, duscht, putzt sich die Zähne, wartet auf Anrufe, schläft nachts, ruft niemanden an. Ein luftleerer Raum umgibt sie. Sie kann nicht mehr vor ihrem Leben in die Politik flüchten, sie kann auch nicht vor der Politik in ihr eigenes Leben flüchten. Manchmal liegt sie da und beobachtet die Vorgänge in ihrem Körper: was hat dein Nacken mit dir zu tun, wie nimmst du ihn wahr, was deine Knie, deine Füße, deine Gedärme. Manchmal, während sie daliegt und merkt, dass der Schlaf nahe kommt, hat sie das Gefühl, es gibt keine Grenzen; es ist nicht nur ein Gefühl, es ist mit einem deutlichen Bild verbunden. Was unterscheidet dich von einer anderen Frau, woher weißt du, dass du nicht eine andere Frau bist. Wenn man das, was du tust, warten nennen kann, soll man es warten nennen. Schon der zweite Donnerstagabend, Anfang März, bringt eine Entscheidung.
Es ist ganz still, keine Stimme ist zu hören, kein Verkehrslärm von draußen, kein knackender Fußboden, kein Wind, kein Regen, kein Hundebellen und Taubengurren. Die Vergangenheit gibt es nicht mehr. Er denkt, dass er jetzt, in diesem Moment, eigentlich tun kann, was auch immer er will, niemand kümmert sich darum, niemand schaut ihm zu, niemanden interessiert es. Niemand steht ihm im Weg. Er sieht sich wie eine Traumverdopplung aus sich selbst heraussteigen, ein freier Mensch, ein Wesen, das fliegen kann, er setzt sich an den Computer und schlägt automatisch eine Nachrichtenseite auf, wie er es schon seit einigen Jahren jeden Tag mehrmals tut, obwohl ihn die Nachrichten mit ihrer schnell vergessenen Bedeutsamkeit, mit ihren Gemeinheiten, Toten und Lügen schon lange nicht mehr interessieren (und je öfter er sie aufruft, umso weniger interessieren sie ihn), so wie ihn vor allem all die selbstgewissen über die Toten hinweggehenden Meinungen zu Nachrichten, inklusive seine eigenen Meinungen von früher, schon lange nicht mehr interessieren. Aber da sind seine Finger auf der Tastatur, von denen nichts verlangt wird, da ist sein Blick auf den Bildschirm, von dem nichts verlangt wird, da sind die vor dem Computer friedlich verstreichenden Minuten, warum beginnt dann sein Herz zu schnell zu klopfen, geh doch raus, lauf. Jede einzelne Nachricht und jede selbstgewisse Meinung zu jeder Nachricht ist noch eine Spur erbärmlicher und noch schneller vergessen als die vom letzten Tag und vom letzten Monat und letzten Jahr, irgendwo gibt es eine riesige rasant wachsende Welt voller vergessener auf nichts bezogener Nachrichten, voller Gemeinheiten, Toten und Lügen, alle Menschen, denen du draußen begegnest, haben ihre selbstgewissen Meinungen und steigen über die Toten hinweg, draußen, in der Gegenwart, auf der anderen Seite des Bildschirms, um dich ist kein Raum. Es gibt eine riesige rasant wachsende Welt voller vergessener auf nichts bezogener Momente und Jahre. Du bist nicht in der Gegenwart, und die letzten Jahrzehnte und alles,
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