Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Bruder, eine Figur, die aus der Unsichtbarkeit auftaucht und zurückbringt, was sie abgelegt hat. Vielleicht braucht sie ja Komplizen, bewusste und unabsichtliche, halb bewusste und halb unabsichtliche, damit die Zeichen, die sie setzt, lesbar bleiben. Tote sind zu retten, durch ein System aus Zeichen, in dem die Anwesenden, darunter sie selbst, Figuren sind, nicht mehr als das. Die Abwesenden fallen nicht aus dem Spiel heraus. Was sie nicht braucht, ist ein Kontrollblick von außen, von außerhalb des Spiels, ein Blick von der anderen Seite. Sie möchte dem Mann einen Tritt geben und ihn aus dem Café werfen. Er soll ihr etwas zeigen, wovon sie nie etwas geahnt hat.
– Was ist das für ein Spiel, von dem Sie geschrieben haben, fragt sie, im Ton eines Polizeiverhörs. Und nun scheint der Mann etwas zu verstehen, er macht eine seltsame Geste, als würde er im Sprechen die Ebene wechseln oder als würde ein anderer an seine Stelle treten, es gehe wohl darum, den Zufall zu überlisten, sagt er, oder eher, sich vom Zufall überlisten zu lassen, er habe nämlich nicht genau gewusst, dass er spiele, nämlich, er habe zwar gewusst, dass er spiele, aber nicht, dass dieses Spiel Ernst sei.
Er kommt sich dumm vor während seines Geredes und hat den Eindruck, sich in jedem Satz drei Mal zu widersprechen, aber vielleicht löst sich die Härte in diesem Tänzerinnengesicht jetzt ein wenig auf, also redet er weiter; merkwürdigerweise verliert er nach einiger Zeit das Bedürfnis, sich andauernd zu entschuldigen, merkwürdigerweise vergisst er nach einiger Zeit, dass er ein Mann ist, vielleicht vergisst er, dass er ein Mensch ist oder würde es vergessen, wenn sich nicht das Zittern in seinen Fingern jedes Mal, wenn er die Hand zur Kaffeetasse, dann, sobald er seine zweite Melange ausgetrunken hat, nur noch zum Wasserglas führt, weiter verstärkte. Einige Teile der Geschichte verschweigt er, alles, was mit Tod und Verlassenwerden zu tun hat, scheint ihm außerhalb des Beredbaren zu liegen, vielleicht merkt es die Frau, sobald er abbricht, verhärtet sich ihr Blick wieder.
– Was wollen Sie hören, sagt sie mit veränderter Stimme, oder sagt aus ihr eine Stimme, die nicht so recht zu dieser Gestalt zu passen scheint, eine Geschichte von einem Mann, der in den Wald geht und sich an einem Ast aufknüpft, ohne irgendeinen Hinweis, ohne einen Brief zu hinterlassen, einen Mann mit Frau und Kindern und Haus und allem, was man zu seiner Zeit zu haben hat? Oder die Geschichte von einem Volksaufstand, der keiner war, gegen eine Regierung, die sich einen Volksaufstand verdient hätte –
Er weiß nicht, von welchem Mann sie gesprochen hat, er weiß nicht, von welcher Zeit und welchem Land sie spricht. Er sieht keinen Zusammenhang. Er schaut auf ihre Hand, die ruhig auf dem Tisch liegt, so ruhig, dass ihre Schwere zu spüren ist.
– Februar 2000, erinnern Sie sich?
Er erinnert sich, und er wundert sich, wie nah und wie weit weg ihm dieser sogenannte Volksaufstand scheint, damals war er selbst zum letzten Mal auf Demonstrationen, bei zwei oder drei Gelegenheiten, als ein Stückchen Volk, mit Pre, das gehört zu der Erinnerung dazu, die Hand dieser damals noch nicht einmal vierzigjährigen Frau in seiner damals neunundvierzigjährigen Hand, er erinnert sich an die Erregung und dass es ihn Jahre später manchmal beim Gedanken gegraust hatte, dass die Dinge, die zu dieser Zeit noch Aufregung hervorgerufen hatten, inzwischen in ganz Europa normal waren, und dass das, was man von dieser Regierung befürchtet hatte, in anderen Ländern der damals noch besorgten sogenannten Europäischen Union später voll und ganz Wirklichkeit werden konnte, ohne dass sich irgendjemand darum kümmerte, davor graust ihm übrigens jetzt auch nicht mehr. Manchmal hat er sich auch gefragt, wo eigentlich all die doch zumeist jungen Leute hin sind (aber wo ist er selbst eigentlich hin?)
– Oder die Geschichte von zwei Mädchen in einem Garten, sagt sie, schönen Mädchen , so will man es doch hören, die Geschichte einer Jugend, die niemals endet, die Geschichte vom Ende einer Kindheit, das niemals endet, wollen Sie so eine Geschichte hören, eine Geschichte, die keine Geschichte ist? Für jeden gibt es die Geschichte, die er hören will, Sie müssen sich nur entscheiden.
Er will keine Geschichte hören, er will nur wissen, warum dieses Mädchen, Monica Stanek, gestorben ist, und er will hören, dass sie nicht gestorben ist und ihm gegenüber sitzt. Er weiß
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