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Regulator: Roman

Regulator: Roman

Titel: Regulator: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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chinesische Tagelöhner. Sie sagten, es sei alles nur Geschwätz - Legendenmache, so drückte sich Yvonne aus -, aber als Garin und ich etwa zweihundert Meter weit vorgedrungen waren, zeigte selbst das Licht meiner kleinen Taschenlampe, daß Yvonne sich geirrt hatte. Überall auf dem Boden des Schachts lagen Gebeine verstreut, zertrümmerte Schädel und Beine und Hüftknochen und Becken. Die
    Brustkörbe waren am schlimmsten, jeder einzelne schien zu grinsen wie die Cheshi-rekatze aus Alice im Wunderland. Wenn wir auf sie traten, knirschten sie nicht einmal, wie man eigentlich erwartet hätte, sondern stoben einfach wie Puder in die Höhe. Der Geruch war stärker denn je, und. ich konnte spüren, wie mir der Schweiß über das Gesicht lief. Als wäre man in einem Heizungsraum statt in einer Mine. Und die Wände! Hier unten hatten sie nicht nur ihre Namen oder Initialen verewigt; sie hatten alles mit dem Ruß ihrer Kerzen vollgeschrieben. Als hätten sie alle beschlossen, ihr Testament an die Wände zu schreiben, als der Zugang zur Mine eingestürzt war und sie in dem Schacht festsaßen.
    Ich packte Garin an der Schulter und sagte: »Wir sind zu weit gegangen. Er hat irgendwo auf der Seite gestanden, und wir haben ihn in der Dunkelheit übersehen.« »Das glaube ich nicht«, sagte er. »Warum nicht?« fragte ich.
    »Weil ich ihn immer noch vor uns spüren kann«, sagte er, und fügte dann laut hinzu: »Seth! Bitte, Liebling! Wenn du da unten bist, kehr um und komm zu uns!« Was wir dann hörten, sorgte dafür, daß sich meine Nackenhärchen aufrichteten. Tiefer in dem Schacht mit seinem Boden aus zerbröseltem Skarn und Schädeln und Knochen konnten wir Gesang hören. Keine Worte, nur die Stimme des kleinen Jungen, die »La-la-la« und »dumm-diedel-dumro« sang. Eine Melodie war kaum herauszuhören, und doch konnte ich die Titelmusik von Bonanza identifizieren.
    Garin sah mich in der Dunkelheit mit aufgerissenen weißen Augen an und fragte mich, ob ich immer noch der Meinung wäre, wir müßten an ihm vorbeigegangen sein. Darauf wußte ich nichts zu erwidern, und wir gingen weiter.
    Allmählich sahen wir Gegenstände zwischen den Knochen - Tassen, Spitzhacken mit rostigen Klingen und komischen kurzen Stielen, kleine Blechkästen mit Gurten daran, wie ich sie im Bergbaumuseum in Ely gesehen hatte. Kerosiner, so nannten die Bergleute sie. Sie trugen sie wie Reliquienkästchen an der Stirn, und darunter Stirnbänder, damit sie sich die Haut nicht verbrannten. Und dann sah ich, daß nicht nur chinesische Worte mit Kerzenruß an die Wände gemalt worden waren, sondern auch Zeichnungen. Gräßliche Bilder - Kojoten mit Köpfen wie Spinnen, Berglöwen, auf denen Skorpione ritten, Fledermäuse mit Babyköpfen. Seither habe ich mich immer wieder gefragt, ob ich das alles tatsächlich gesehen habe, oder ob es Halluzinationen gewesen sein könnten, hervorgerufen durch die schlechte Luft so weit unten in dem Schacht. Später habe ich Garin nicht gefragt, ob er sie auch gesehen hatte. Ich weiß nicht mehr, ob ich es nur vergessen habe oder nicht zu fragen wagte. Er blieb stehen, bückte sich und hob etwas auf. Es war ein kleiner schwarzer CowboyStiefel, der zwischen zwei Felsbrocken eingeklemmt worden war. Der kleine Kerl mußte ihn eingeklemmt haben und einfach weitergelaufen sein. Mr. Garin hielt ihn hoch, so daß ich ihn im Licht meiner winzigen Lampe sehen konnte, und steckte ihn in sein Hemd. Das La-la-la und Dumm-di edel-dumm konnten wir immer noch hören, daher wußten wir, daß er immer noch vor uns lief. Es hörte sich an, als wären wir etwas nähergekommen, aber ich gab mich keinerlei Hoffnungen hin. Unter der Erde kann man es nie genau sagen. Der Schall geht dort seltsame Wege. Wir gingen weiter und weiter, ich weiß nicht, wie weit, aber es ging immer tiefer nach unten und wurde immer heißer. Auf dem Boden des Schachts lagen weniger Knochen, dafür mehr heruntergestürzte Felsbrocken. Ich hätte mit dem Licht nach oben leuchten und mir ein Bild von der Beschaffenheit der Decke machen können, wagte es aber nicht. Ich wagte nicht einmal, daran zu denken, wie tief wir inzwischen sein muß-ten. Es muß mindestens vierhundert Meter von der Stelle entfernt gewesen sein, wo die Explosionen den Schacht aufgerissen hatten. Wahrscheinlich mehr. Und ich war mir langsam ziemlich sicher, daß wir nie wieder rauskommen würden. Die Decke würde einstürzen, und das war's dann gewesen. Wenigstens würde es schnell gehen,

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