Regulator: Roman
»Schießt! Schießt, gottverdammt! Macht sie dem Erdboden gleich!« »Runter!« ruft Johnny erneut, obwohl er weiß, es wird nichts nützen; das Haus wird verschwinden wie die Sandburg eines Kindes bei Flut, und sie alle mit ihm. Die Regulatoren eröffnen das Feuer, und es hält jedem Vergleich mit allem stand, was Johnny in Vietnam erlebt hat. So, denkt er, muß es in den Schützengräben von Ypern oder rund dreißig Jahre später in Dresden gewesen sein. Der Lärm ist unvorstellbar, eine ununterbrochene Kette von KA-BUMMs und KA-BAMMs, und obwohl Johnny denkt, er müsse sofort taub (oder allein durch die brutalen Dezibelwerte getötet) werden, kann er die Geräusche des Hauses hören, das rings um sie herum in Fetzen geschossen wird: berstende Bretter; klirrende Scheiben; Porzellanfiguren, die wie Ziele in einem Schießstand explodieren; das trockene Prasseln von herumfliegenden Mörtelbrocken. Ganz leise kann er auch Menschen schreien hören. Der bittere Geruch von Pulverdampf dringt ihm in die Nase. Etwas Unsichtbares, Riesiges saust heulend über ihnen durch die Küche, und plötzlich besteht der größte Teil der hinteren Küchenwand nur noch aus Trümmern, die über den gesamten Garten verstreut sind oder im bei K-mart erstandenen Pool schwimmen. Ja, denkt Johnny. Das ist es, das ist das Ende. Vielleicht ist es auch ganz gut so.
Aber dann geschieht etwas Seltsames. Das Schießen hört nicht auf, aber es schwindet, als würde jemand die Lautstärke herunterdrehen. Das gilt nicht für die Schüsse selbst, sondern für das Heulen der Geschosse, wenn sie über sie hinwegsausen. Und es geht schnell. Keine zehn Sekunden, nachdem es ihm zum erstenmal auffällt - möglicherweise eher fünf -, sind die Geräusche völlig verstummt. Ebenso das unheimliche, pulsierende Summen der Motoren in den Power Wagons.
Sie heben die Köpfe und sehen sich an. In der Vorratskammer sieht Cynthia, daß sie und Steve weiß wie Gespenster sind. Sie hebt einen Arm und pustet. Puder wirbelt von ihrer Haut hoch. »Mehl«, sagt sie.
Steve streicht sich durch das lange Haar und streckt ihr eine zitternde Hand entgegen. Einige glänzende schwarze Dinger liegen darin. »Mehl ist nicht schlecht«, sagt er. »Ich hab Oliven.«
Sie glaubt, daß sie zu lachen anfangen wird, aber bevor sie loslegen kann, passiert etwas Erstaunliches und vollkommen Unerwartetes.
Seths Aufenthaltsort/Seths Zeit
Von allen Durchgängen, die er sich während der Herrschaft von Tak - Tak dem Dieb, Tak dem Grausamen, Tak dem Tyrannen - gegraben hat, ist dies der längste. In gewisser Weise hat er seine Version von Rattlesnake Nummer eins geschaffen. Der Schacht führt tief in eine Art schwarzer Erde, die vermutlich er selbst ist, dann steigt er wieder wie eine Hoffnung zur Oberfläche empor. Am Ende befindet sich eine Tür mit Eisenbeschlägen. Er versucht nicht, sie zu öffnen, aber nicht aus Angst, sie könnte verschlossen sein. Ganz im Gegenteil. Diese Tür darf er erst berühren, wenn er völlig bereit ist; hat er sie erst einmal hinter sich gelassen, gibt es kein Zurück mehr. Er betet, daß sie dorthin führt, wohin er glaubt.
Durch die Ritzen der Tür fällt genügend Licht, um ihm zu zeigen, wo er steht. An den seltsam fleischfarbenen Wänden hängen Gemälde; ein Gruppenbild seiner Familie mit ihm zwischen seinem Bruder und seiner Schwester; ein Foto von ihm, wie er zwischen Tante Audrey und Onkel Herb im Vorgarten ihres Hauses steht. Sie lächeln. Seth ist ernst wie immer ,nicht ganz da. Außerdem ein Foto mit Allen Symes, der (zwergenhaft) neben einer der Raupenketten von Mr. Mo steht. Mr. Symes trägt seinen Schutzhelm von Deep Earth und grinst. Eine solche Fotografie existiert nicht, aber das spielt keine Rolle. Dies ist Seths Aufenthaltsort, Seths Zeit, Seths Verstand, und er schmückt ihn, wie es ihm gefällt. Vor nicht allzu langer Zeit hätten hier Bilder der MotoKops und der Figuren aus Die Regulatoren gehangen, nicht nur hier, sondern im ganzen Tunnel. Jetzt nicht mehr. Für ihn haben sie ihren Zauber verloren. Ich bin herausgewachsen, denkt er, und das ist die Wahrheit. Autistisch hin oder her, erst acht Jahre hin oder her, er ist zu alt für Knall-sie-ab- Western und Zeichentrickserien am Samstagmorgen geworden. Plötzlich begreift er, daß das mit ziemlicher Sicherheit die grundlegende Wahrheit ist, die Tak niemals begreifen würde: Er ist herausgewachsen. Er hat die Figur von Cassie Styles in der Tasche (wenn er eine Tasche braucht, stellt er
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