Regulator: Roman
sich einfach eine vor; das ist praktisch), weil er sie immer noch ein bißchen liebt, aber sonst? Nein. Die Frage ist nur, ob er ihnen entkommen kann oder nicht, diesen süßen Phantasiegebilden, die möglicherweise die ganze Zeit mit Gift getränkt gewesen sind. Der Zeitpunkt ist gekommen, es herauszufinden. Neben dem Foto von Allen Symes ragt ein schmales Regal aus der Wand. Seth hat die Regale im Flur der Carvers gesehen und bewundert, von denen jedes seiner eigenen Hummel-Figur vorbehalten war, und dieses hier hat er mit den Regalen der Carvers vor Augen geschaffen. Das Licht, das durch die Ritzen der Tür dringt, reicht aus, um zu zeigen, was darauf steht - kein Schafhirte oder Milchmädchen von Hummel, sondern ein rotes PlaySkool-Telefon. Er nimmt den Hörer ab und wählt zwei-vier-acht mit der Plastikwählscheibe. Das ist die Nummer im
Haus der Carvers. Das Spielzeugtelefon läutet... läutet... läutet. Aber läutet es auch am anderen Ende? Kann sie es hören? Kann überhaupt jemand von ihnen es hören? »Komm schon«, flüstert er. Er ist voll und ganz bei Bewußtsein und wach; an diesem tiefverborgenen Ort ist er ebensowenig autistisch wie Steve Ames oder Belinda Josephson oder Johnny Marinville ...er ist sogar so etwas wie ein Genie. Im Augenblick ein ängstliches Genie. »Komm schon ... bitte, Tante Audrey, bitte hör mich ... bitte geh ran ... «
Denn die Zeit ist knapp, und der Zeitpunkt ist jetzt.
Main Street, Desperation/Regulatoren-Zeit
Das Telefon im Wohnzimmer der Carvers fängt an zu läuten, und als wäre dies eine Art Signal, das direkt auf sein tiefstes und empfindlichstes Nervenzentrum zielt, bricht Johnny Marinvilles Begabung, alles zu sehen und in eine zeitliche Abfolge zu bringen, zum erstenmal in seinem Leben völlig zusammen. Seine Perspektive gerät ins Rutschen, so wie die Umrisse in einem Kaleidoskop in Prismen und leuchtende Trümmer zerbrechen, wenn die Röhre gedreht wird. Wenn der Rest der Welt in Streßsituationen auf diese Weise sieht und wahrnimmt, denkt er, ist es kein Wunder, daß die Leute so viele falsche Entscheidungen treffen, wenn es brenzlig wird. Es gefällt ihm nicht, auf diese Weise wahrzunehmen. Es ist, als ob man hohes Fieber hat und ein halbes Dutzend Leute um das Krankenbett herumstehen sieht Man weiß, daß vier davon wirklich da sind ... aber welche vier? Susi Geller heult und schreit den Namen ihrer Mutter. Die Kinder der Carvers sind natürlich beide wieder wach; Ellen, deren Fähigkeit, die Dinge verhältnismäßig stoisch hinzunehmen, endgültig verschwunden ist, hat offenbar eine Art Nervenzusammenbruch, sie schreit aus vollem Hals und schlägt Steve, der sie umarmen und trösten will, auf den Rücken. Und Ralphie will seine große Schwester verhauen! »Laß Margrit los!« herrscht er Steve wütend an, während Cynthia versucht, ihn zu bändigen. »Laß Margrit die Made los! Sie hätte mir den ganzen Schokoriegel geben sollen! Sie hätte mir den GANNNNNNZEN geben sollen, dann wäre das alles nicht passiert!« Brad geht ins Wohnzimmer - wahrscheinlich, um den Hörer abzunehmen -, aber Audrey hält ihn am Arm fest. »Nein«, sagt sie, und dann, mit einer fast unwirklichen Höflichkeit: »Das ist für mich.« Und Susi ist inzwischen aufgestanden, Susi läuft den Hur entlang zur Eingangstür, um nachzusehen, was aus ihrer Mutter geworden ist (keine sehr kluge Idee, Johnnys bescheidener Meinung nach). Dave Reed versucht wieder, sie aufzuhalten, doch diesmal gelingt es ihm nicht, daher folgt er ihr einfach und ruft ihren Namen. Johnny rechnet damit, daß die Mutter des Jungen versuchen wird, ihn aufzuhalten, aber Cammie läßt ihn gehen, während hinter dem Haus Kojoten, wie sie noch nie auf Gottes weiter Welt existiert haben, ihre mißgebildeten Schnauzen heben und irre Liebeslieder an den Mond richten.
Das alles auf einmal, kreisend wie Abfall in einem Wirbelsturm.
Er steht auf, ohne es zu merken, und folgt Brad und Belinda ins Wohnzimmer, das aussieht, als wäre der Weiße Riese in einem Wutanfall durchgestapft. Die Kinder schreien immer noch in der Vorratskammer, und Susi heult am Ende des Flurs. Willkommen in der wunderbaren Welt stereophoner Hysterie, denkt Johnny.
Derweil sucht Audrey nach dem Telefon, das nicht mehr auf dem kleinen Tisch neben der Couch steht. Nicht einmal das Tischchen selbst steht noch neben der Couch; es liegt auseinandergebrochen in der Ecke gegenüber. Das Telefon liegt daneben in einem Berg von Glasscherben. Es ist
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