Regulator: Roman
dem Fernseher keine Beachtung (es sei denn, es lief eine Pferdeoper oder eine Science-fiction-Serie) und sah Herb mit seinen gräßlichen schlammbraunen Augen an, den Augen eines Geschöpfs, das sein ganzes Leben in einem Sumpf verbracht hat. Er saß auf dem Stuhl, den seine Tante und sein Onkel damals so liebevoll geschmückt hatten, bevor der Alptraum anfing. Zumindest bevor sie wuß-ten, daß er angefangen hatte. Er saß da und sah Herb an, kaum je einmal sie selbst, jedenfalls damals noch nicht. Saß da und sah ihn an. Dachte ihn an. Saugte ihn aus wie ein Vampir in einem Horrorfilm. Und genau das war das Ding in Seth ja auch, oder nicht? Ein Vampir. Und ihr Zusammenleben hier in der Poplar Street, das war der Film. Ausgerechnet Poplar Street, wo es wahrscheinlich in jedem Haus noch mindestens eine Platte von den Carpenters gab. Nette Leute, die alles stehen- und liegenlassen, wenn sie im Radio hören, daß dem Roten Kreuz die Vorräte der Blutgruppe Null ausgehen, und niemand, der wußte, daß Audrey Wyler, die ruhige Witwe, die zwischen den Sodersons und den Reeds wohnte, mittlerweile die Hauptrolle in ihrem eigenen Hammer-Film spielte.
An guten Tagen glaubte sie, daß Herb, dessen Sinn für Humor als Schild und Ansporn für das Ding in Seth gewirkt hatte, sich lange genug hatte festklammern können, um seine Flucht zu organisieren. An schlechten Tagen wußte sie, daß das Bockmist war, daß Seth einfach alles aus Herb herausgeholt hatte, was herauszuholen war, und ihn dann mit einem Selbstzerstörungsprogramm, das in seinem Kopf leuchtete wie eine Neonbierreklame im Schaufenster einer Bar, in die Garage geschickt hatte. Aber eigentlich war es gar nicht Seth; nicht der Seth, der sie manchmal (am Anfang) umarmt und ihnen kurze Küsse mit offenem Mund gegeben hatte, die sich anfühlten wie platzende Seifenblasen. »Ich 'owboy«, sagte er da ab und zu, wenn er auf seinem speziellen Stuhl saß; Worte, die aus seinem sonstigen unverständlichen Gebrabbel herausragten und ihnen den, wenn auch vorübergehenden, Eindruck vermittelten, daß sie Fortschritte erzielten: Ich bin ein Cowboy. Dieser Seth war reizend gewesen; liebenswürdig nicht trotz seines Autismus, sondern teilweise gerade deshalb. Aber dieser Seth war auch ein Medium gewesen, wie kontaminiertes Blut, das einen Virus gleichzeitig ernährt und transportiert.
Der Virus - der Vampir - war Tak. Ein kleines Geschenk aus der großen amerikanischen Wüste. Laut Bill hatte die Familie Garin nicht gewendet, war nicht nach Desperation gefahren, hatte nie untersucht, was hinter dem Erdwall lag, den sie von der Straße gesehen hatten, dem Erdwall, der Seth in solche Aufregung versetzt hatte, daß er sein sonstiges Stammeln überwand und in verständlicher Sprache redete. Das konnten wir wirklich nicht, Aud, hatte Bill gesagt. Ich wollte es vor Einbruch der Dunkelheit nach Carson City schaffen.
Aber Bill hatte gelogen. Das wußte sie wegen eines Briefs, den ein Mann namens Allen Symes ihr geschickt hatte. Symes, Bergbauingenieur für eine Firma, die sich Deep Earth Mining Corporation nannte, hatte die Familie Garin am 24. Juli 1994 gesehen, demselben Tag, an dem Audrey s Bruder ihr die überschwengliche Postkarte geschickt hatte. Symes hatte ihr versichert, daß sich nichts besonders Aufregendes zugetragen hatte, daß er die Garins lediglich an den Rand der Tagebaumine geführt (hineinzugehen hätte gegen die Vorschriften der MSHA verstoßen, stand in seinem Brief) und ihnen einen kurzen historischen Abriß gegeben, bevor er sie wieder ihres Weges schickte. Das war eine gute Geschichte, langweilig und plausibel zugleich. Unter normalen Umständen hätte Audrey an keinem Wort gezweifelt, aber sie wußte etwas, das Mr. Allen Symes aus Desperation, Nevada, nicht wußte: daß Bill geleugnet hatte, den Abstecher überhaupt gemacht zu haben. Bill hatte behauptet, sie wären einfach weitergefahren, weil er vor Einbruch der Dunkelheit in Carson City sein wollte. Und wenn Bill gelogen hatte, war es dann nicht möglich -sogar wahrscheinlich? -, daß Symes ebenfalls log? Weshalb sollte er lügen? Weshalb? Stop, Daddy, fahr zurück, Seth will Berg sehen. Warum hast du mich belogen, Bill?
Das war eine Frage, die sie wohl beantworten konnte: Bill hatte gelogen, weil Seth ihn gezwungen hatte, zu lügen. Sie glaubte, daß Seth während des Telefongesprächs mit ihrem Bruder direkt neben dem Apparat gestanden und das Wesen, das er nicht mehr als seinen Vater betrachtete, mit
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