Reibereien
Besessenen ans Herz drückt. »Das nenne ich eine sinnliche Stimme«, vertraute sie mir an, kaum daß sie mich kennengelernt hatte. »Und darin bin ich mit euch nicht ein verstanden, mit dir und den anderen jungen Leu ten, ihr habt einfach nichts für schöne Dinge übrig. Manchmal sehe ich wirklich eine Kluft, die uns trennt.«
Sie essen und trinken, gehen plaudernd und scherzend durch den Raum, nehmen Platz, und ich frage mich, wie das wohl endet. Oder besser ge sagt, ich weiß, wie das endet, aber ich will es nicht wahrhaben, irgend etwas in mir weigert sich zuzugeben, daß sich all das schon unzählige Male abgespielt hat und ich nur ein fernes Echo davon mit bekommen habe, wenn mir meine Mutter in die Arme sackte und ich ihr großmütig Aspirin verordnete.
Cecilia zupft mich am Ärmel und sagt: »Willst du mein Zimmer sehen?«
»Na klar«, erwidere ich. »Laß uns ein paar Flaschen Bier mitnehmen.«
Während Dean Martin That's amore anstimmt und Olga ihn mit einem unsichtbaren Mikrofon in der Hand begleitet und dabei lebhaft angefeuert wird, mit den Hüften zu wackeln, gehen Cecilia und ich nach oben.
Ich hatte mir gedacht, ihr Zimmer sei vielleicht eine Besichtigung wert, aber die Wände sind kahl, und die Matratze liegt auf dem nackten Boden.
»Wo sind denn deine Sachen?« frage ich sie.
»Was für Sachen?«
Ich blicke sie an und sage mir, daß es höchste Zeit ist abzuhauen. Aber eine Stunde später bin ich aus unerklärlichen Gründen immer noch da.
Sie schlägt mir vor, ein bißchen mit ihr an den Strand zu gehen. Ich bin einverstanden und ziehe mir die Schuhe wieder an.
Als wir ins Erdgeschoß kommen, habe ich den Eindruck, als hätten sie die Heizung auf- gedreht, alle ihre Sorgen vergessen und Farbe bekommen. Aber sie benehmen sich noch einigermaßen gesit tet, auch wenn die Frauen inzwischen darauf verzichten, den Rock straff zu ziehen, und die Typen nichts anderes mehr tun, als sie anzuglotzen. Mit ten unter ihnen: meine Mutter. So was wünsche ich niemandem.
»Du glaubst nicht, wie sehr das an mir zehrt«, gestehe ich Cecilia ein, während ich den Mantelkragen hochschlage. »Manchmal versaut mir das wirklich das Leben.«
Wir laufen über menschenleere Straßen zwischen Einfamilienhäusern mit erleuchteten Fenstern, ge hen an Stromleitungen entlang, die an den Masten tanzen. Der Himmel ist pechschwarz, voller Ster ne, und es tut gut, sich die Beine zu vertreten. Wir unterhalten uns jetzt über nicht ganz so ernste Themen. Cecilia kommt mir ein wenig nervös vor, aber nachdem sie mir erzählt hat, was sie alles durchgemacht hat und was selbst bei Menschen, die cleverer sind als sie, zu Depressionen führen dürfte, freue ich mich, sie lächeln zu sehen. Ich sage mir, daß sie gut daran tu t, die Gelegenheit zu nut zen.
Dann gelangen wir ans Meer. Es ist stockfinster. Der Horizont ist nicht zu erkennen, man kann das Meer nicht von der Nacht unterscheiden. Es ist windig, aber nicht allzu kalt. Wir setzen uns mit unterm Kinn angewinkelten Beinen in den Sand. Ich betrachte sie und wundere mich.
Nach einer Weile stehen wir auf und gehen am Wasser entlang. In dieser Gegend sind die Strände kilometerlang.
Sie hält die Schuhe in der Hand, zieht die Hose hoch und geht durchs Wasser. »Na, wie ist das Wasser?« frage ich sie. Es ist das erste Mal, daß ich ein Mädchen kennenlerne, das die Eltern verloren hat, ein Mädchen, das vom Stiefvater aufgezogen wurde. Ich weiß nicht, was eben mit mir los war, warum ihr Charme, dem ich bei unserer ersten Be gegnung erlegen bin, diesmal nicht sofort gewirkt hat.
Wenn man leicht verschlossene, trübselige We sen mag, ist sie die ideale Frau. Wenn man nicht unbedingt Wert darauf legt, daß sie gebräunt sind und von morgens bis abends lächeln, und keinen Wer bespot im String für MTV mit ihnen drehen muß, kurz gesagt, wenn man eine Vorliebe für etwas seltsame, ziemlich originelle Mädchen hat, beunruhigend, aber originell, dann liegt man bei ihr genau richtig.
Utte ist nicht beunruhigend. Ich hatte geglaubt, sie sei es, aber sie ist es nicht. Im Gegenteil. Ein zwölfjähriger Bengel könnte mit Utte ausgehen, ihr auf die Schliche kommen, den geringsten Stimmu ngswechsel vorhersehen und sagen, wann sie Lust hat zu niesen. Zwischen uns lief wirklich gar nichts mehr. Die Geschichte mit der Bratpfanne, die mir noch deutlich vor Augen stand, hatte viel leicht bewirkt, daß die Sache endgültig in die Brü che ging.
»Aber du lebst doch noch mit ihr
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