Reich der Schatten
waren. Er hatte ihm kühlende Tücher auf die Stirn gelegt und rasch Tabletten in den Mund gesteckt, um den Schmerz etwas zu lindern.
Er wusste, dass Weiss die Tabletten stahl, und er wusste, dass Weiss dabei sein Leben riskierte. Wenn er versuchte, ihm zu danken, errötete der Mann nur und erwiderte: »Nicht alle von uns sind Ungeheuer. Auch bei uns gibt es gute Menschen. Aber wir haben Angst, und die Angst ist die größte aller Waffen.«
Der Lieutenant formte mühsam die Worte: »Danke. Ich danke Ihnen. Ich glaube noch immer an die Existenz Gottes und daran, dass er Sie segnen wird.«
Der schmächtige kleine Mann mit der Nickelbrille errötete noch mehr. »Wenn Sie mir danken wollen, dann glauben Sie bitte, dass sich auch bei meinem Volk das Gute finden lässt. Dass es Menschen gibt, die ihre Kinder lieben, Gott ehren und Schmerz verabscheuen.«
Die Schmerztablette begann zu wirken, und der Lieutenant brachte fast ein Lächeln zustande. »Das weiß ich, Doktor Weiss. Ich hasse keine Völker, ich hasse nur Tyrannen, denen ein Menschenleben nichts gilt. Aber das spielt jetzt keine große Rolle mehr, oder? Ich komme hier niemals lebend heraus.«
»Nein, ich denke, Sie werden leben«, meinte Dr. Weiss, wobei er fast etwas bekümmert klang.
»Keiner der anderen hat überlebt, oder?«
»Keiner, keiner der Alliierten und keiner der unseren.«
»Seltsam …«
»Sie verstehen es nicht, oder? Sie haben keine Ahnung, was passiert ist, nicht wahr?«
»Wir haben geschossen, die anderen haben geschossen, und plötzlich schien es, als ob sämtliche Wölfe Europas ihren eigenen Krieg kämpfen würden.«
»Sie Ärmster!«
Dr. Weiss strich ihm das Haar aus der Stirn. Sein Blick schweifte zum Fenster und wieder zurück zum Lieutenant. Er wirkte ausgesprochen nervös.
»Sie wollen wissen, wie stark Sie sind. Sie wollen Sie benutzen. Sie wollen wissen, wie Sie es geschafft haben, zu überleben, und ob und wie Sie weiter überleben. Aber mir ist das alles klar.«
»Ach ja? Und woher kommt es?«
Dr. Weiss schien seine Frage überhört zu haben. »Irgendwie muss ich Sie von hier wegschaffen, und zwar bald. Ich muss es einfach. Den anderen wird aufgehen, wie stark Sie wirklich sind, und dann werden sie es mit der Angst zu tun bekommen und Sie ermorden. Ich muss nachdenken … ich muss nachdenken.«
Er dämmerte in einen leichten Schlaf hinüber, doch er dachte noch immer an Weiss. Das Maß an Nächstenliebe in diesem Mann war unfassbar groß gewesen, auch wenn er sich selbst dadurch in höchste Gefahr brachte.
»Ich bin ohnehin dem Tod geweiht«, meinte der Lieutenant. »Machen Sie keine Dummheiten. Wenn das alles vorbei ist, wird Ihr Land Männer wie Sie brauchen.«
Der Arzt sah ihn nicht an.
Er starrte hinaus in die Nacht.
Schließlich blickte er dem Lieutenant in die Augen. Seine Miene war angstverzerrt, seine Worte kamen stockend. »Ich bete … ich bete …«
»Was denn?« Das Sprechen fiel ihm zunehmend schwer.
»Ich bete, dass ich nicht von Ihnen umgebracht werde.«
Er zwang sich dazu, aufzuwachen. Sein Rücken war schweißüberströmt.
Schlaf. Ruhe.
Träume. Albträume.
Oh mein Gott, es reicht!
Im La Guerre herrschte reger Betrieb.
Man sprach zwar über den bizarren Mord, aber die meisten Leute schien dieser Vorfall eher kalt zu lassen.
Als Ann und Tara eintrafen, spielte bereits eine Band, deren Repertoire überwiegend aus amerikanischer Popmusik bestand.
Die Tische waren alle besetzt, doch an der Bar waren noch ein paar Hocker frei. Die beiden setzten sich, und Ann stellte Tomas, dem Barkeeper, ihre amerikanische Cousine vor. Tomas schlug ihnen den ausgezeichneten Hauswein vor, worauf die beiden gerne eingingen.
Ann leerte ihr Glas fast in einem Zug. Tara hätte große Lust gehabt, es ihr gleichzutun. Sie fragte sich noch immer, ob ihr Großvater oder vielleicht sogar die ganze Welt verrückt geworden war. Während Ann von der Arbeit und von all den Meetings erzählte, die sie heute hinter sich gebracht hatte, lauschte Tara nur mit halbem Ohr; denn gleichzeitig wollte sie mitbekommen, was um sie herum geredet wurde.
»Ich glaube, der Professor, dieser Dubois, hält mit einigem hinterm Berg«, meinte eine junge Frau an einem Tisch in Taras Rücken.
»Dubois schäumt vor Wut, weil die Polizei seine Ausgrabungen behindert«, erwiderte einer ihrer Begleiter.
»Jedenfalls glaube ich nicht, dass er der Mörder ist, es sei denn, er ist ein ausgezeichneter Schauspieler«, erwiderte die junge
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