Reich der Schatten
vorgestellt?«
»Ich kenne ihn ja kaum. Ich war mir nicht sicher, ob er tatsächlich aufkreuzen würde, obwohl ich es gehofft hatte. Und rate mal, wer noch da war? Willem! Zumindest glaube ich, dass er es war. Ich bin mir fast sicher, dass ich ihn an einem Ecktisch habe sitzen sehen. Aber der Blonde hat mich schwer beeindruckt. Hoffentlich sehe ich ihn bald wieder. Er ist … äußerst attraktiv. Und sehr männlich. Ich liebe breite Schultern und starke Muskeln.« Mit einem raschen Blick nach hinten vergewisserte sie sich, dass Brent nicht mithören konnte. »Es ist ja nicht so, dass ich nicht alt genug bin, um einen Mann aufgrund seines Gripses und seines Auftretens zu schätzen, aber … na ja, ich muss leider zugeben, dass mich auch ein toller Körper beeindruckt. Dieser Mann, Rick, hat zudem hervorragende Manieren, er kann sehr witzig sein, und sein Akzent ist einfach herrlich, egal ob er Englisch spricht oder Französisch.«
»Die Franzosen hassen doch den amerikanischen Akzent«, entgegnete Tara zerstreut. Sie blieb stehen und sah zu Brent zurück.
»Tara! Ich habe noch nie über einen amerikanischen Akzent die Nase gerümpft. Na gut, ab und zu vielleicht schon. Aber bei diesem Mann …«
»Brent, wo steht Ihr Wagen?«, rief Tara.
»Auf dem Parkplatz, gleich neben Ihrem.«
Der Parkplatz lag in der Nähe der Bar. Sobald sie aus dem Neonschein des La Guerre getreten waren, wirkte die Straße auf einmal sehr finster.
Sie waren hier nicht im Zentrum von Paris, das Tag und Nacht hell erleuchtet war.
Alte Häuser, manche über hundert Jahre alt, manche weitaus älter, standen neben den wenigen modernen Gebäuden, die es hier gab. Tagsüber herrschte viel Betrieb in den Geschäften, aber nachts …
Jetzt war alles geschlossen. Und dunkel. Es gab nur ein paar Straßenlampen, und über die geparkten Autos wachten ein paar an sich sehr schöne Laternen, die leider nur ein schwaches Licht gaben. Ihrem Stil nach stammten sie wohl aus den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts. Warum schufen diese Lampen keinen hellen, sicheren Bereich?
Stattdessen trugen sie dazu bei, eine Welt aus Finsternis und dunklen Schatten entstehen zu lassen, die sich ständig zu verändern schienen.
Brent war stehen geblieben. Er lauschte und beobachtete die Schatten.
Tara sah sich um. Ihr wurde seltsam beklommen zumute, sie verspannte sich am ganzen Körper, und ihre Muskeln wurden bleischwer.
Die Schatten bewegten sich tatsächlich.
Sie wirkten wie riesige Flügel, wie dunkle Schwingen in der Nacht, die zwischen den Gebäuden herumspukten. Plötzlich kam Wind auf, ein kalter Wind, obwohl der Herbst gerade erst begonnen hatte.
»Geht!«, sagte Brent leise, doch sehr bestimmt.
»Was ist das?«, fragte sie.
Nichts – es war doch gar nichts, nur eine finstere Straße und ein Wetterwechsel, der Anbruch einer neuen Jahres-zeit.
Und die Schatten?
Das waren doch nur Schatten.
Trotzdem …
Tara spürte noch immer ein seltsames Gefühl, ein Prickeln im Nacken, bleierne Angst, lähmendes Entsetzen.
Entsetzen? Angst?
Vor Schatten?
Sie versuchte, sich wieder zu fassen und gesunden Menschenverstand und Vernunft walten zu lassen. Zu ihrer Gewissheit zurückzufinden, dass alle Gefahren auf der Welt bekannte Gefahren waren.
»Geht!«, wiederholte er.
Plötzlich griff Ann nach ihrem Arm. Offensichtlich spürte ihre Cousine dieselbe unerklärliche Angst, die sie gepackt hatte.
Brent betrachtete sie und schenkte ihnen ein seltsames, entwaffnendes Lächeln. »Geht los, bitte, macht schnell. Ich komme gleich nach, wenn ich mich vergewissert habe, dass alles in Ordnung ist.«
»Allons-y!«, beharrte Ann und grub die Finger fast schmerzhaft in Taras Unterarm.
Welche Kraft sie dazu brachte, sich in Bewegung zu setzen, war ihr unklar. Jedenfalls packte sie die Hand ihrer Cousine und begann zu rennen. Vor ihnen tauchte Anns Auto auf.
Ann hatte es direkt unter einer der Laternen geparkt, die hier ihr fahles Licht verbreiteten.
Tara war noch nie im Leben so schnell gerannt und sah sich auch kein einziges Mal um, als sie über den Bürgersteig und dann über einen Rasenstreifen und wieder auf geteertem Boden zum Auto stürmten. Sie hatte Angst, wie Lots Frau zu einer Salzsäule zu erstarren.
Oder etwas zu sehen, was sie nicht sehen wollte. Etwas, dessen Existenz sie leugnen konnte, solange sie sich nicht umdrehte.
Der Schatten erstreckte sich quer durch die Nacht bis zu dem Lichtschein, der das Auto umgab. Sie hörte etwas hinter sich, ganz
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