Reich der Schatten
und diese Männer benutzten sie nicht einfach nur und ließen sie dann wieder fallen. Sie biss sich auf die Zunge, um ihn nicht zu fragen, woher er wohl glaube, dass all ihre Markenklamotten und Stiefel stammten, die Ohrringe und der Schmuck, den sie manchmal anlegte. Wenn er das wüsste, würde er ihr sicher nur noch Schlimmeres an den Kopf werfen.
Jedenfalls machte sie dieses Telefonat noch wütender. »Nein, Paul, ich verzeihe dir nicht«, erklärte sie. »Und wir gehen heute nicht aufs Konzert. Wir müssen Schluss machen, und zwar sofort. Ich liebe dich nicht. Du stinkst nach Schafen. Hast du mich verstanden? Ich kann diesen Schafgestank nicht länger ertragen!«
Damit legte sie auf. Natürlich war sie hinterher umso aufgebrachter, weil die Gäste und der Chef dieses Gespräch sicher mitbekommen hatten.
Sie bat Monsieur François um Verzeihung. Im Allgemeinen war er nachsichtig, weil sie bei den Gästen sehr beliebt war. Und auch jetzt brummelte er nur irgendetwas Unverständliches. Sie erklärte ihm, dass sie nur aus Freundlichkeit so grausam gehandelt hätte: Sie hätte dem jungen Paul seine Illusionen rauben müssen, damit er nicht wieder ins Café stürmte und eine Szene machte.
Monsieur François warf sie nicht hinaus. Sie fragte sich, ob noch einer ihrer Stammgäste auftauchen würde, um zu sehen, ob sie nach der Arbeit noch Lust auf ein wenig Gesellschaft hätte.
Doch keiner kam. Gereizt bereute sie, heute nicht mit dem Auto in die Arbeit gefahren zu sein; denn nun stand ihr ein langer Fußmarsch bevor.
Am Eingang blies ihr ein frischer Wind ins Gesicht. Sie hatte keinen Mantel dabei, nur einen leichten Cashmerepullover, in den sie nun schlüpfte, bevor sie sich auf den Weg machte.
Es wurde schon wieder so früh dunkel! Dabei war es noch gar nicht Winter. Beim Laufen hatte sie das Gefühl, dass sich schon eine richtige Winterkälte breitmachte. Zudem hatte sie heute auch nicht ihre normalen Arbeitsschuhe an, sondern nur ein Paar leichte Slipper, da sie vorgehabt hatte, nach der Arbeit nur rasch in ihre Hüftjeans zu schlüpfen, die sie für das Konzert in der Stadt mitgenommen hatte. Die Straßen im Dorf waren uneben, und zweimal hätte sie sich fast den Knöchel verdreht.
Leise fluchte sie auf Paul.
Und dann …
… entdeckte sie zwei Scheinwerfer im Dunkel, die direkt auf sie zukamen.
Sie trat an den Straßenrand, weil sie sicher war, dass ihr nach einem Tag wie dem Heutigen bestimmt niemand eine Mitfahrgelegenheit anbieten würde.
Trotzdem …
… wurde der Wagen langsamer und blieb neben ihr stehen.
Sie zögerte, denn ihr fiel der schreckliche Mord ein, der unweit dieser Stelle geschehen war. Aber was hatte sie schon mit der albernen Ausgrabung in der alten Katakombe zu tun? Sie beugte sich hinab und warf einen Blick in den Wagen, dessen Beifahrerfenster heruntergelassen worden war.
Ihr Herz machte einen Sprung.
»Hallo!«, sagte er. »Das wundert mich aber, dass ich dich hier draußen treffe, so ganz allein. Es ist kalt. Warum läufst du allein im Dunkeln herum?«
»Ich habe heute mit meinem Freund Schluss gemacht«, erklärte sie seufzend. Ihre Wangen röteten sich; in ihr stieg eine kühne Erregung auf. So schlecht war dieser Tag vielleicht doch nicht; nicht im Traum hätte sie sich einfallen lassen, dass er, dieser unglaublich tolle Mann, noch einmal nach ihr sehen würde. Und er mochte sie, er fand sie süß und charmant. Er kannte sie nicht wirklich, aber das war schließlich nicht so wichtig. Er fühlte sich zu ihr hingezogen, das war die Hauptsache.
Und auch sie fühlte sich zu ihm hingezogen.
»Das tut mir aber leid«, erwiderte er. »Steig ein, ich fahre dich nach Hause.«
Freudig folgte sie der Aufforderung. Ein hübsches Auto; sie hätte sich gleich denken können, dass dieser Mann ein nagelneues Auto fuhr, sexy, schnittig.
»Vielen Dank für das Angebot.«
»Gern geschehen, sehr gern geschehen«, entgegnete er. Sie hatte eine Hand aufs Knie gelegt, er legte seine Hand darüber. »Du bist wirklich ein ausgesprochen hübsches junges Mädchen. Dein Kerl ist ein Idiot, dass er dich alleine heimgehen lässt.«
»Es ging nicht anders«, erwiderte sie. »Es hat sich schon seit Längerem abgezeichnet … wir sind einfach nicht … na ja, wir haben einfach unterschiedliche Ziele im Leben.«
»Armes Kind«, murmelte er.
»Ich wohne etwa drei Kilometer von hier.«
»Na gut. Aber du gehst jetzt nicht heim und weinst dir die Augen aus, oder?«
»Ich habe Ihnen doch schon
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