Reich der Schatten
anderes behaupten wollte, konnte sie ruhigen Gewissens die Stirn bieten.
Der künstlerische Leiter steckte den Kopf zur Tür herein. »Sie haben das Meeting versäumt«, meinte er.
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
»Schon in Ordnung. Wir haben uns bei der Umschlaggestaltung des neuen amerikanischen Romans auf Ihren Vorschlag geeinigt – schlichtes Muster, klare Farbgebung. Es ging ohne große Diskussionen ab.«
»Danke!«, sagte Ann. »Das freut mich. Es tut mir trotzdem leid, dass ich nicht dabei war.«
Er zuckte die Schultern. »Ich glaube, das war das erste Meeting, das Sie versäumt haben.«
»Ja.«
»Also dann, bis morgen!«
Er ging. Ann kramte in ihrem Schreibtisch nach einem Gummiband für das Manuskript, das sie mit nach Hause nehmen wollte.
»Wo zum Teufel warst du heute Nachmittag?«
Sie sah hoch. Willem stand an der Tür.
»Weg«, sagte sie.
»Wo? Und mit wem?«
»Das geht dich nichts an«, erwiderte sie gereizt. Was war bloß los mit ihm? Er hatte mit dem heutigen Meeting ohnehin nichts zu tun – es sei denn, er hatte beschlossen, sich einzumischen, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.
»Es geht mich sehr wohl etwas an«, erwiderte er.
»Und warum?«
»Weil … weil ich dich liebe. Und weil sich in den Straßen von Paris ein verrückter Mörder herumtreibt.«
Sie spannte das Gummiband um das Manuskript. »Du liebst mich nicht, jedenfalls nicht so, wie du dich selbst liebst. Du ärgerst dich bloß, weil du nicht so toll bist, dass ich dich wiederhaben will, nachdem du mich betrogen hast, und weil ich vielleicht auch noch andere Interessen habe. Und der Mörder, der sich hier herumtreibt, hatte es auf die Schätze in einem Sarg abgesehen«, erklärte sie schroff. »Jetzt entschuldige mich bitte, ich gehe nach Hause.«
»Warte – warte mal.«
Sie seufzte. »Warum sollte ich?«
»Ann, in Paris ist es zurzeit gefährlich. Du darfst nicht allein herumspazieren.«
»Willem, für mich ist es nur gefährlich, wenn ich mich zu sehr an dich hänge. Und erstaunlicherweise bin ich über dich hinweg, so sehr ich dich auch geliebt habe.«
»Ann, ich flehe dich an: Verzeih mir meinen Fehltritt, er hat überhaupt nichts zu bedeuten, zwischen mir und diesem Mädchen ist nichts. Sie hatte mich nur gebeten, ihr zu helfen.«
»Aha«, meinte sie zynisch. »Tja, ich fürchte, es gibt noch eine ganze Menge Frauen, die in Zukunft deine Hilfe brauchen werden. Nein, ich bin müde, und ich möchte jetzt nach Hause. Entschuldige mich.«
Einen Moment lang hatte sie Angst, dass er sie hindern würde, ihr Büro zu verlassen.
Doch dann trat er zur Seite. Sie hatte vor, hoch erhobenen Hauptes und völlig gleichgültig an ihm vorbeizumarschieren. Dennoch hatte sie Angst, es könne ihr wie auf einer Zugbrücke ergehen, die sich in dem Moment schloss, wenn sie sich auf ihrer Mitte befand.
Das geschah natürlich nicht. Aber er hielt sie tatsächlich auf, indem er sie am Oberarm packte.
»Willem …«
»Ann, du bist ein albernes kleines Ding. Du merkst gar nicht, dass du mir gehörst und dass ich es dir beweisen werde, und zwar sehr bald.«
Zerstreut fuhr sie sich mit den Fingern am Hals entlang, denn sie hatte das Gefühl, dass sie eine Haarsträhne kitzelte.
»Lass mich gehen.«
Er beugte sich zu ihr vor. »Nein, meine Liebe. Du wirst schon sehen: Du gehörst mir.«
»Gute Nacht, Willem«, sagte sie entschlossen.
Während sie an ihm vorbei den Gang hinablief, beschlich sie eine merkwürdige Furcht. Sie wusste, dass er stehen geblieben war und sie beobachtete, wie sie den Empfangsbereich durchquerte und sich die Tür hinter ihr schloss.
Rasch drückte sie den Knopf am Fahrstuhl und sah sich hektisch um. Ihre Angst vor Willem war größer, als sie sich eingestehen wollte.
Die Aufzugtüren gingen auf. Sie trat in den engen Raum und lehnte sich an die Wand. Die Tür stand noch immer offen.
Sie trat einen Schritt vor, um noch einmal auf den Knopf für das Erdgeschoss zu drücken. Doch währenddessen war auch Willem am Fahrstuhl angelangt. Er trat ein.
Sie wich zurück. Die Tür ging zu.
»Tja, Ann«, sagte er leise. »Hier sind wir also, nur wir zwei.«
In der Zeit kurz vor dem Einschlafen, wenn der Tag der Dämmerung weicht und die Dämmerung der Nacht, konnte er Dinge erkennen.
Er konnte Dinge sehen.
Bilder.
In jener Nacht sah er sie allein durch die Straßen streunen, wachsam und auf der Suche nach denen, die sie gerufen hatten.
Hungrig.
Er sah sie … und er sah die beiden Männer mit der
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